Ende Dezember 1952 wurde ich bei der Zuckerfabrik entlassen, weil ich ja nur für die Kampagne eingestellt worden war. Trotzdem bekam ich anteilmäßig mein Weihnachtsgeld und auch acht Zentner Brikett. Anfang Januar 1953 meldete ich meine Arbeitslosigkeit dem Arbeitsamt und bezog bis Ende März 1953 Arbeitslosengeld. Da ich relativ gut verdient hatte war die Arbeitslosenunterstützung auch dementsprechend. Zur gleichen Zeit half ich sehr viel im Geschäft meiner Frau und meldete mich deshalb beim Arbeitsamt ab. Im Nachhinein erwies sich das als ein großer Fehler, weil dort wohlhabendere Leute als ich wöchentlich ihre Stempelkarte präsentierten und auch ihr Geld kassierten. Meine Tochter war gut zwei Jahre alt, sie war im Sprechen und auch sonst gut dabei und mein Schwager Paul-Heinz brachte dem Kind sehr schwer zu sprechende Wörter bei. Eines abends beim Essen stellte Paul-Heinz dem Kind die Frage: „Gertrude was ist dein Vater? - die Antwort – ein ausgestempelter Erwerbsloser.“

Mein Schwiegervater hatte vor dem Krieg in Gruissem bei Holzheim eine 5 Morgen große Parzelle erworben und darauf ein kleines aber schönes Treibhaus gebaut. Er hatte damit einem Neffen von ihm die Gelegenheit zur Selbständigkeit geben wollen. Kurz und gut, der Neffe wurde Soldat und das Treibhaus vergammelte während der Kriegsjahre. Dort wurde denn auch wenigstens einmal in der Woche per Fahrrad hingefahren und aufgeräumt. Der Schwiegervater war auch sein ganzes Leben ein Hühnerfreund, und bald stellte sich heraus, daß er dort einen Vielzweckstall unter Einbeziehung des ehemaligen Treibhauses bauen wollte.

Irgendwann wurde dann in Gruissem nahe der Erft  mit unserem ersten Neubau begonnen. Wir brauchten oder hatten weder eine Baugenehmigung noch einen Architekten. Die Fundamente haben wir zwei ausgehoben und gegossen, dann wurde an einem Samstag mit zwei Maurern (Alex Holz und Hans Königs) sowie meinem Vater und Schwiegervater wieder in Richtung Gruissem gezogen. An diesem Samstag wurde hart gearbeitet, die Vorbereitungen hatten sich gelohnt und obwohl alles per Handarbeit getätigt wurde, stand um 19.00 Uhr der Stall im Rohbau. Festhalten möchte ich noch, daß bei der nächtlichen Heimfahrt jeder von uns wenigstens einmal wegen Trunkenheit auf dem Fahrrad in einem Getreide oder Rübenfeld gelandet ist. Das Dach sowie Fenster und Türen sind von meinem Schwiegervater und mir später in mühevoller Kleinarbeit hergerichtet worden. Mein Schwiegervater muß wohl als junger Mann in dem Walzwerk, wo er gelernt und gearbeitet hat einige Patente angemeldet haben, bei ihm war alles noch brauchbar und wenn er einige Dosen, Räder und Stangen zur Verfügung hatte, konnte man damit rechnen, daß ein kleines Auto bald seine Werkbank verlassen würde.

Eines Tages hatte er sich eine Brutmaschine zusammen gebastelt. Die erste Brut –40 Eier – schlüpfte wegen zu geringem Feuchtigkeitsgehalt nur knapp zur Hälfte, aber alles was danach in die Brutmaschine eingelegt wurde brachte 95% Schlupfergebnisse. Einige Monate später befanden sich in dem Stall die ersten Küken. Opa hatte sich auch aus einem Schuhkarton und einer Glühbirne ein Durchleuchtungsgerät gebastelt, wenn die Eier einige Tage im Brutgerät waren konnte er sehen, wie hoch die Befruchtungsquote war und ob bei Hühnern, welche die Bruteier legten genügend und gute Hähne waren. Leider war mein Schwiegervater in russischer Gefangenschaft etwas abgestumpft, er hatte wohl zuviel erlebt und gesehen, man hatte ihn ja vom ersten Kriegstag an eingezogen. Es zog ihn auch nicht in den Laden, wenn in späteren Jahren wo wieder Auswahl vorhanden war, einem ein Kotelett oder der Schinken zu fettig war, verließ er umgehend den Laden. Er beschäftigte sich viel mit seinem Werkzeug, welches er in allen Variationen und Berufszweigen besaß.

Stichwort Berufszweige: In diesen Jahren waren die sogenannten  klassischen Berufe noch auf jedem Dorf anzutreffen. Der Schuster (Schuhmacher) war meistens der Größe des Dorfes entsprechend mehrmals vorhanden. Ob nun Stellmacher, Schmied, Schneider oder kleine Schlosserwerkstatt belebten damals die dörfliche Idylle.

Auf den Bauernhöfen war das Pferd noch die vorrangige Arbeitskraft. Hier und da waren auch schon Traktoren vorhanden, die aber auch wegen des Treibstoffes, erst einige Jahre später ihren Einzug in der rheinischen Landwirtschaft hielten. In den Dörfern war allein schon wegen der Bauernhöfe immer etwas los. Es gab keinen Bauernhof auf dem nicht vom Pferd über Kühe, Schweine, Hühner bis zum Hund alles vorhanden war. Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer zählten natürlich auch zum Inventar. In Elsen,  Fürth und Fürther-Berg gab es in den Jahren um 1955 noch 18 praktizierende Landwirte. Heute, im Jahr 1999, sind davon noch 5 übrig geblieben. Der Richtigkeit wegen muß gesagt werden, daß von den 5 Bauern, die übrig blieben Familie Therhardt nach Laach und von Ameln nach Bedburdyck ausgesiedelt sind, sowie der Landwirt Reif seinen Betrieb nebenberuflich macht.

Die Männer der Pfarrei Elsen machten damals, jeweils im Oktober, mit dem Oberpfarrer Thomas eine Wallfahrt nach Kevelaer. Mein Nachbar, der Bauer Josef Rütgens war natürlich auch dabei. Da ich zu der Zeit, es mag im Jahr 1959 oder 1960 gewesen sein, schon in einigen Kampagnen die landwirtschaftlichen Strukturen und Verhältnisse kennengelernt hatte, wagte ich die Prognose, daß in spätestens 10 Jahren  in Elsen und Fürth nur noch die Hälfte der Landwirte in ihrem Beruf tätig wären. Obwohl Josef Rütgens mich ermahnte, mit meinen Äußerungen vorsichtig zu sein, dauerte die prophezeite Prozedur nur knappe 5 Jahre.

Nachdem ich im März 1953 meine arbeitslose Zeit freiwillig dem Arbeitsamt gegenüber beendet hatte, bekam ich irgendwann von der Zuckerfabrik eine Aufforderung, mich zwecks Kampagnebeschäftigung mit dem Prokuristen, Herrn Rodrigo einmal zu unterhalten. In dieser Unterredung erfuhr ich, daß ein Mann für das Bahnwiegehaus gesucht wurde und ich diesen Posten alljährlich für 4 Monate übernehmen könnte. Als Bewerbungsunterlagen brauchte ich nur meinen Kaufmannsgehilfenbrief vorzuzeigen, weil mich, wie sich bei dem Vorstellungsgespräch herausstellte, einige Herren gut kannten. Die Situation bei dem Gespräch ist wie folgt zu beschreiben. Ich befinde mich auf der Treppe des Bürogebäudes, als mir ein mittelgroßer Ball entgegen hopst, welchen ich mit nach oben nahm. Auf der ersten Etage, in einem langen breiten Flur, spielten Peter Zimmermann und Paul Fick Fußball und Adolf Hoppe stand am Fenster und paßte auf, wann der Herr Rodrigo, der genau gegenüber wohnte, erschien. Dieser schien an dem Tag einen ausgiebigen Mittagsschlaf gehalten zu haben, weil ich noch einige Zeit ins Fußballspielen einbezogen wurde. Als der Herr dann erschien, war alles bei der Arbeit und ich durfte gleich mit ins Büro und hatte ein gutes und für beide Seiten zufriedenstellendes Gespräch mit dem Herrn Rodrigo. Er telefonierte dann noch mit dem Wiegemeister, welcher dann nach oben kam, um mich auch kennenzulernen. Wir begrüßten uns, stellten uns vor und so hatte ich den Herrn Pütz, seines Zeichens vereidigter Wiegemeister für Fuhrwerks- und Waggonwaagen, Schriftführer im Betriebsrat und wie gut zu hören war, ehemaliger Pulheimer Bauernsohn kennengelernt. Der Herr Pütz ließ seinen Vorgesetzten wissen, daß er mit mir einverstanden war und ich war von diesem Tag an von der Zuckerfabrik begeistert.

In der Familie verlief alles normal, Normalität zu dieser Zeit hieß wöchentlich 1/8 = 62,5 g Kaffee, größere Packungen wurden selten über die Ladentheke gereicht, für mich 1 Päckchen Zigarettentabak, ansonsten wurde sehr sparsam gelebt. Auch meine kleine Tochter wurde sparsam erzogen, ihr blieb zwar nichts vorenthalten, aber dadurch, daß noch ein Schwein und auch Hühner im Stall waren, konnte der Haushaltsetat ziemlich klein gehalten werden. Uns wurde von Tag zu Tag immer deutlicher, daß die beiden Fachwerkhäuser, in denen wir und die Familie Merzenich als Mieter wohnten, so schnell wie möglich erneuert werden mußten. Obwohl unser Laden immer sauber und aufgeräumt war, befand er sich in einem uralten Haus, welches zur Bachseite hin (der Elsbach, welcher jetzt verrohrt ist floß hautnah vorbei) regelrecht abgesunken war. Auch war es schwer jegliches Ungeziefer fernzuhalten. Trotzdem war man zufrieden, weil man umständehalber nicht anders wußte und nicht anders konnte. Ein Umstand war auch, daß in jedem halbwegs strengen Winter die Bewohner aus Fürth, die vom Bach aus in Richtung Elfgen wohnten, kein Wasser hatten, dann war die Leitung im Bach zugefroren und die Leute kamen dann täglich von 3 – 4 Uhr bei uns ihr Wasser holen. Andererseits war nach schneereichen Wintern immer zuviel Wasser vorhanden, ich erinnere mich, daß manchmal in bootsähnlichen  Kübeln über die Straße gepaddelt wurde.

Es wären nicht meine vollständigen Erinnerungen, wenn ich nicht die erste Peep-Show in Fürth dokumentieren würde. Als gebürtiger Orkener war ich trotz kleinem Portemonnaie immer noch im Fußballclub und besonders im Gesangverein Mitglied. Ich fuhr jeden Freitagabend zur Chorprobe nach Orken. Freitags wurde in unserer Familie, wie zu der Zeit üblich in einer Zinkwanne, wir hatten zwar eine emaillierte, gebadet. Das Badewasser wurde in einem riesengroßen Topf (Ferkespännchen) aufbereitet. Wenn ich zum Singen fuhr, war meine Frau mit den täglichen Putzarbeiten im Laden fertig und ging dann, nachdem Schwiegermutter und Schwager gebadet hatten, in die Wanne. Eines Freitagsabends meinte meine Frau als ich gegen 11.00 Uhr zurückkam, sie hätte auf unserem Hof etwas gehört. Da der Hof aber rundum zu war und auch normal keiner hineinschauen konnte glaubten wir, daß sich die Katzen etwas laut verhalten hätten. Die Katzen verhielten sich dann am nächsten Freitag wieder recht laut und darum präparierte und organisierte ich für den übernächsten Freitag  die Fahrt zur Gesangprobe so, daß mich jeder sehen konnte, als ich hinfuhr, aber keiner bemerkt hatte, als ich mich im Schutz des Elsbaches wieder ins Haus begeben hatte. Nun habe ich mich natürlich so postiert, daß ich zwar alles sehen konnte, aber selbst unsichtbar blieb. Zur gewohnten Stunde vernahm ich dann, wie sich zuerst zwei und kurz darauf noch mal zwei von den jungen Fürther Burschen einfanden und gleich ging es am Bach vorbei an unsere Gartentür, die mittels Werkzeug schnell geöffnet war. Die Tür vom Garten zu unserem Hof war mit einem einfachen Draht zu entriegeln und schon befanden sich die jungen Herren auf den besten Plätzen, einer jungen Frau, die proportional etwas darstellte, beim Baden zuzusehen. Die Vorstellung endete natürlich abrupt, als ich aus dem Dunkel in Erscheinung trat. Für mich ist es heute noch ein Rätsel, wie die vier Burschen ohne sich gegenseitig die Köpfe einzulaufen in alle Himmelsrichtungen verschwinden konnten und auch bis 1.00 Uhr nachts nicht ihre Wohnungen aufsuchten, weil ich diese unter Beobachtung hielt.

Am folgenden Morgen kam als erste Mutter eines der Übeltäter  Rüttgers Änne in den Laden. Änne lebt heute noch, war aber damals schon schwer gehbehindert und reagierte auf meine Frage, ob Sohn Peter auch so spät nach Hause gekommen wäre wie mein Schwager Paul Heinz, wie erhofft. Hans es waren 2.00 Uhr dem hab ich die Leviten gelesen. Als ich Göbbels Änne, so wurde und wird sie im Dorf genannt, nun eröffnete, womit sich ihr Sohn am vorigen Abend und einige Freitagabende vorher beschäftigt hatte, bekam ich laut und deutlich zu hören: „Mein Peter macht so etwas nicht“. Demgegenüber war Frau Landwehrs und auch Frau Nosowski gleich der Meinung, daß ihre Söhne selbstverständlich dabei nicht fehlen konnten. Für mich war das alles auch ein Jungenstreich, den ich bis aufs unerlaubte Türeöffnen  vielleicht auch mitgemacht hätte. Es dauerte sehr lange, bis die Burschen sich mal wieder blicken ließen und dann von mir einige herzliche Worte in Empfang nahmen, aber damit war die Vorstellung dann auch abgeschlossen.

Wie schon gesagt, zum Männer-Gesang-Verein Orken hat es mich noch viele Jahre hingezogen. Einmal herrschte dort eine erstklassige Kameradschaft zwischen alt und jung und unser Dirigent Theo Esser hatte, obwohl die Familie kinderlos war, ein enormes Talent Menschen zusammenzuführen. Er hatte wie schon gesagt einen sehr guten Posten bei dem Finanzamt und war auf das Dirigentenhonorar nicht angewiesen. Er war wohl der Leiter der Einheitswertstelle, machte viel Außendienst und kannte fast jedes Anwesen im Bereich des damaligen Kreises Grevenbroich. Es kam selten vor, daß wir Sänger nach der Chorprobe gleich das Lokal verließen. Meist wurde das letzte Lied des Abends an der Theke gesungen. Einmal erzählte Theo Esser, wie es ihm bei der Ausführung seiner Tätigkeit in einer Gaststätte ergangen ist. Der Akte, die er angefertigt hatte, legte er bei Bemerkungen eine Notiz bei, die besagte, daß die Wirtin dicke Memmen hat. Theo kam mit seinem Aktenkoffer in seinem Amt an und wurde da von einer Kontrollkommission der Oberfinanzbehörde Düsseldorf überrascht, die ihrerseits die Einheitswertstelle kontrollieren mußte. Dafür mußte er sein Zimmer und alle in Arbeit befindlichen Akten den Prüfern überlassen. Nach Abschluß der Kontrolle konnte er mit Genugtuung feststellen, daß die Notiz über die Wirtin, wie auch alle anderen Überprüfungen, mit dem Haken und Namen des Prüfers und einem stimmt versehen war. Theo Esser war nicht nur ein erstklassiger Chorleiter des Gesangs wegen, er verstand es auch in feiner Manier, uns die Aussprache, die ja dialektbedingt nicht die beste ist, etwas aufzufrischen. Mit ihm haben wir auch einige Ausflüge gemacht und auch Kameradschaftsabende sowie Konzerte veranstaltet. Er war für den Verein  und auch für jeden einzelnen Sänger in jeder Situation verfügbar.In einem Gespräch, es mag um 1950/51 gewesen sein, erzählte er mal ganz beiläufig, daß die Ortschaften Elfgen, Belmen und Garzweiler in wenigen Jahren den Baggern weichen müßten, und die Grenze des Abbaugebietes wäre wohl Elsen und Fürth. Da es nirgendwo für diese Darlegung die geringsten Anzeichen gab, haben wir nur gelacht. Es dauerte aber keine 5 Jahre, bis die ersten Bürgerversammlungen in Elfgen stattfanden. Ich bin aber davon überzeugt, daß er manch armer Familie aus den betroffenen Dörfern mit guten Ratschlägen behilflich war.

Leider bekomme ich nicht mehr alles, was ich früher so vorgetragen, in Reih und Glied. Es blieb mir meistens vorbehalten, die Sänger und deren Frauen an den Kameradschaftsabenden  zu unterhalten. Bei Theo Esser komme ich nicht mehr auf den ersten Vers, aber dann ging es wie folgt:

 

Weil wir uns auf den Freitag stets

mehr freuen als auf andere Tage

auch wenns des Freitags fleischlos geht.

Dann steht vor uns der Dirigent, und tut uns dirigieren.

Dann sieht man sein Musiktalent, man siehts und kanns verspüren.

Er wird dann bald mal groß, mal klein, mal ernst und auch mal lächelnd,

stets immer wie der Dichter schreibt, ja stets dem Text entsprechend.

Hier spricht das Lied von Mutterliebe, dort preist es Gott und die Natur,

man singt ein Lied dir an der Wiege, man singts dir auch  zur letzten Ruh.

Wo es auch immer mag erklingen, das schöne, alte, deutsche Lied

Es wird stets Menschen glücklich stimmen, es wird stets Menschen an sich ziehn.

 

Diesem Sängerfest war die Silberhochzeit unseres Sangesbruders Jakob Lingen vorausgegangen. Er hatte obwohl bei uns kleinen Leuten noch kein Wohlstand ausgebrochen war, eine Abordnung unseres Chors zur Feier eingeladen. Auf Grund von Erzählungen dieser Abgeordneten habe ich, leider auch nicht mehr ganz vollständig, folgenden Vortrag gemacht.

 

Singen ist des Sängers Freude, trinken tut der Sänger auch,

kurz vorm Singen einen trinken, das ist so des Sängers Brauch.

Feste feiern wie sie fallen, gleich ob Kirmes ob Neujahr,

ob ne grüne, ob ne silberne, ob ne goldne Hochzeit war,

immer wird die Stimm gewaschen, immer mit dem edlen Naß,

läßt man sich gern überraschen, trinkt man erst Bier dann Wein dann Schnaps.

Silbern war die Lingens Hochzeit, silbern das Vereinsgeschenk,

aber blitzeblau wie Veilchen war das, was man Vorstand nennt.

Vorstand wär zu viel gesprochen, halber Vorstand sag ich drum,

Nakötter, Stärken, Schnicks und Schotten, das war unsere Abordnung.

Vier Mann sah ich schnellen Schrittes über unseren Mißpatt gehen,

ich hört sie lachen, hört sie flüstern, hört was vom Wasser im Munde stehn,

ich hörte was von trocknen Kehlen, vernahm dann auch etwas von Durst,

wenn dä er kenne do hat sät de Sterken, dann jon ech op der Stell no Hus,

wat meinste do sät Schottens Wilhelm, schött dä er uns net sofort ene en,

dann jet dä er sich och ene linne, sonst jon ech op der Stell no hem.

Nun standen sie schon vor dem Hause, der Schnicks bedient die Klingel schon,

die Tür ging auf, ein freundlich grüßen, und herzlich waren sie willkommen

und als die vier ins Zimmer traten, man hörte kaum noch einen Ton

da stand dort wie in einem Laden, ein 20 Liter Weinballon.

Nun fehlten allen vier die Worte, sie waren angenehm enttäuscht,

wie sie die Ansprach dar nun brachten, paßt mal schön auf das hört ihr gleich.

Im Namen vom Gesangverein, mensch  Kobes hast du wirklich Wein,

dann kann et jo noch heiter werde, kom schött ens en lott ens probere.

Da gabs auch schon nen Rippenstoß, Herr Präsident wat sat ihr bloß,

zuallererst mal gratulieren, und dann des Jakobs Wein probieren.

Verzeihung edles Silberpaar, im Namen unserer Sängerschar,

bring ich hier dies Geschenk Euch dar.

Und weiter wünscht Euch der Verein, daß Ihr lang lebt und sorgenfrei.

Die Sonne möge Euch stets strahlen, daß ihr in 25 Jahren

am Tag der goldenen Hochzeit, noch so gesund wie heute seid.

Nun weinte Jakob Freudentränen, kommt sagte er und zieht euch aus,

die Sache muß begossen werden, fühlt euch bei mir so wie zu Haus.

 

Soweit ist mir der Vortrag noch geläufig, ich habe zwar noch mehrere solcher Sachen gemacht, aber leider nie in Reinschrift zu Papier gebracht. Ob es sich da um den Sangesbruder  Willi Görtz handelt, der trotz seiner harten Arbeit abends noch etwas Kohlenklau spielte und dabei geschnappt wurde, oder um die Büttenrede der Schwarzbrenner, die ich in einer der ersten Karnevalssitzungen nach dem Krieg hielt. Hätte ich damals eine Schreibmaschine und etwas mehr Zeit gehabt, wäre bestimmt alles festgehalten worden.

Mittlerweile bekam ich von der Zuckerfabrik die Benachrichtigung über den Kampagnebeginn 1953 und die Bestätigung, daß ich im Bahnwiegehaus eingesetzt, würde. Während des Jahres war ich mit Herrn Alderath, der auch als Wiegemeister aber im Fuhrwiegehaus alljährlich die Kampagne mitmachte, mal ins Gespräch gekommen. Er erzählte mir, daß bei der Zuckerfabrik einige Selbständige Jahr für Jahr die Kampagne mitmachten und diese dann im Jahr über einen Kontraktbezirk übertragen bekommen. Mit dieser vagen Hoffnung im Hinterkopf begann ich dann Ende September die zweite Kampagne bei Pfeifer und Langen.

In den ersten Kampagnetagen fand der Herr Pütz Gelegenheit, mir seinen und meinen Arbeitsplatz gründlich zu erklären. Die ersten Waggons, die damals verwogen wurden waren Kalksteinwagen, wo das Gewicht kontrolliert wurde und Zuckerwagen, die zum Versand kamen. Die Zuckerwaggons wurden, nachdem sie verwogen waren noch an Ort und Stelle von einem Bahnbeamten  verplombt. Meistens war auch noch der Herr Bahner vom Zoll dabei. Die Zuckerproduktion sowie der Verkauf und Versand der süßen Angelegenheit wurde und wird auch heute noch von der Zollbehörde überwacht. Zum Verplomben fällt mir folgendes Erlebnis ein. Der Herr Piel, ein altgedienter Bahnbeamter, und sein Lehrjunge oder Assistent Heinz Deutzmann, wir nannten ihn Futtika, kamen, um einige Waggons Zucker zu verplomben. Dann stellte Piel fest, daß er die Plombenzange im Zuckerhaus hat liegen lassen und schickte Futtika, um diese zu holen. Zuckerhaus und Bahnwiegehaus waren rund 1 Km. voneinander entfernt. Als Futtika ankam und seinem Chef die Plombenzange übergab, wollte dieser auch Plomben haben, aber Futtika meinte: „Do hast du mir nix von gesät“. Dann Piel aufgebracht bis dorthinaus:“ Do han ech ene Ohs gecheck un krieg ene Böff wir.“(da hab ich einen Ochsen geschickt und bekomme Stier zurück)

Nun kamen auch die ersten Rübenwaggons an. Um etwas Gefühl für die Waage zu bekommen mußte ich unter Aufsicht und Anleitung auch gleich von Kampagnebeginn an immer einige Waggons wiegen. Diese Waggons wurden auf die Waage gefahren und dann in Standstellung verwogen. Als aber die erste Fahrt Rübenwaggons ankam, mit einer Fahrt brachte die Bundesbahn uns um die 40 Waggons in unseren Anschluß, staunte ich, daß der Herr Pütz die Waggons zwar im Kriechtempo, aber doch fahrend verwiegen konnte. Dabei beschrieb ich die Wiegekarten mit Wagennummer und Taragewicht und der Herr Pütz hatte die Gewichte eingestellt und mußte die Karte dann abdrücken. Es konnten nie mehr als 10 Waggons verwogen werden, weil sonst der Überweg (Straße) zu lange blockiert gewesen wäre. Auch gehörte eine gewisse Routine des Lokführers dazu, den Zug in gleichmäßigem Tempo über die Waage rollen zu lassen. Für jeden ein- oder ausgehenden Waggon mußten Frachtpapiere vorhanden sein, das heißt, Frachtbrief und Beklebungen sowie Eintragung in die Frachtbücher. Ich mußte täglich zwei mal zum Güterbahnhof, um dort zusammen mit den Bahnbeamten die Papierfront zu bewältigen. Wir hatten immer ein gutes Verhältnis miteinander und mit dem Herrn Orgeich bin ich heute noch befreundet. Zu dieser Zeit war der Güterbahnhof Grevenbroich garantiert mit 10 Leuten, Güterschuppen und Büros besetzt, wozu noch die Expreßgutabteilung mit 3 Mann gerechnet werden muß. Allein Pfeifer und. Langen hatte in der Kampagne schätzungsweise einen täglichen Waggonumschlag von ca 140 – 150 Stück. Davon waren 40 Braunkohlewaggons, im Schnitt täglich 70 Rübenwagen, Koks und Kalksteine zählten auch zu den täglichen Eingängen, und unser Versand an Frisch-, Brüh- und Melasseschnitzel sowie Zucker- und Kesselwagen für Melasse ist mit  täglich 30 Wagen nicht zu hoch angesetzt.

Mir wurde jedenfalls eine Arbeit übertragen, die sehr vielseitig war, man mußte nicht nur sein Denkvermögen einsetzen, die praktische Arbeit auf dem Bahndamm wie Beklebungen anbringen, besondere Wagen kenntlich machen kam auch zum Zuge.

Es gefiel mir erstklassig dort, ich verdiente gut und bei Kampagneschluß freute ich mich schon wieder auf die nächste Kampagne.

Ich habe jetzt den kompletten Arbeitsablauf in einem  Bahnwiegehaus der Zuckerfabrik dokumentiert, wie er sich vor gut 40 Jahren abgespielt hat. Da ich mehrere Jahre hintereinander dort meinen Dienst tat, möchte ich doch von dem Erlebten während dieser Zeit noch etwas schriftlich festhalten.

Mein Vorgesetzter, der Herr Pütz und ich arbeiteten in beidseitigem allerbesten Einvernehmen. Daß auch private Dinge besprochen wurden war selbstverständlich. Herr Pütz kam wie gesagt aus Pulheim und erzählte mir, daß seine Mutter, weit über 80 Jahre noch lebte. Eines Tages kommt er morgens mit einer schwarzen Krawatte zum Dienst. Meine Frage lautete natürlich: ist Ihre Mutter verstorben? Er sieht mich groß an und sagt, wie kommste denn darauf? Als ich ihn dann auf die schwarze Krawatte anspreche meint er:„ Ich glaubte eine rote umgebunden zu haben.“ Er erzählte mir dann, daß er farbendumm, nicht farbenblind sei und alles grau in grau sehen würde. Auch hatte er mit seinem Magen große Probleme, er nahm täglich und immer öfter Rabor-Tabletten. Seine Nichte Mia war zu der Zeit im Krankenhaus Grevenbroich beschäftigt und hatte von einer Schwester (Nonne) für den Ernstfall, wenn die Schmerzen unerträglich würden, einige Zäpfchen für Onkel Johann Pütz bekommen. Onkel  Johann, ein Pulheimer Bauer, der sein Leben lang kaum einen Arzt gekannt, geschweige denn von Medikamenten eine Ahnung hatte, nahm die Zäpfchen wie Tabletten ein und hatte dann schlimmes zu überstehen. Er rief seine Nichte im Krankenhaus an, aber die Nichte Mia fand nicht die Worte, den Onkel aufzuklären. Das tat dann wieder die kirchliche Schwester. Pütz im Nachhinein: Moll! Has du dann gewost wie Zäpcher engenomme wedde?

Da unser Wiegehaus zu dieser Zeit über keine Toilette verfügte, kann man sich vorstellen, was Johann Pütz auf und an dem offenen Bahndamm für Tänze aufführte. Ich habe mich nie an den Damm gesetzt, um ein Geschäft zu erledigen, dafür aber einen Herrn Dr. Asche gebeten, sich den Mißstand einmal anzusehen und für Abhilfe Sorge zu tragen. Dr. Asche war damals Betriebsleiter in der Zuckerfabrik und es stellte sich heraus, daß weder er noch der amtierende Direktor Wunderlich je das Bahnwiegehaus und den Bahnanschluß kennengelernt hatten. Es war nicht  bei der nächsten Kampagne, aber bestimmt bei der vierten Kampagne, die ich im Bahnwiegehaus machte, als ein Anbau am Wiegehaus, welcher die Toilette und einen wenn auch einfachen Umkleideraum beherbergte, bis auf einige Kleinigkeiten fertig war. Zu den Kleinigkeiten gehörte auch die Betondecke, die noch mit Mörtel verputzt werden mußte und eine Türe, die das Örtchen vom Umkleideraum abtrennte. Beides sollte an dem Tag geschehen denn ein Bauhandwerker und der Betriebsschreiner Josef Kruß besser gesagt (seg man Jupp) waren im Raum und bereiteten ihre Arbeit vor. Der Putzer bereitete seinen Mörtel vor und seg man Jupp meinte, ich war nie dumm in der Arbeit, aber das habe ich nie gekonnt, es lag immer mehr auf der Erde als an der Decke. Meine Bemerkung, wenn der Mörtel fertig ist brauche ich keine halbe Stunde, um die Decke einzuziehen, veranlaßte seg man Jupp dazu, mit mir eine Wette abzuschließen. Wir waren mittlerweile insgesamt einschließlich Rangiermeister, Rangierer, Lokführer und Bahnbeamter 13 Leute und Jupp wollte jedem eine Flasche Bier spendieren. Er kannte mich ja nur gut gekleidet mit Krawatte, und traute mir derartige Arbeit nicht zu. Als ich das Reibebrett drei mal an die Decke gebracht hatte der Mörtel oben blieb und ich meinen normalen Arbeitskittel noch sauber hatte, schickte Jupp den Lokführer zum blauen Affen ( Kneipe am Bahnanschluß) und ließ das Bier  holen.

Kurz etwas zu seg man Jupp: Josef Kruß war ein geborener Krefelder und hat dort auch bis zu seiner Heirat mit einer Wevelinghovenerin gelebt. Wenn er samstags und sonntags zu seiner Braut kam und entweder an der Kirche oder in der Gaststätte gefragt wurde, „wer sind Sie denn“? Kam immer das legendäre “seg man Jupp“. Das ist original Krefelder Platt und heißt zu deutsch “sagen Sie einfach Josef“. Wenn in Wevelinghoven oder bei der Zuckerfabrik einer nach Josef Kruß gefragt hätte, wären 90 % der Leute nicht in der Lage gewesen, eine Auskunft zu geben. Ich darf noch anführen, daß auch Josef Kruß ein sehr geachteter und beliebter Mann in der Fabrik wie auch in Wevelinghoven war.

So auch Johann Pütz, er war in allen Belangen und Bereichen geschätzt und geehrt, in seiner Eigenschaft als Betriebsratsmitglied war er stets auf Ausgleich bedacht. In all den Jahren, die ich noch bei Pfeifer und Langen verbrachte habe ich nie, ob von der Betriebsleitung oder dem kleinsten Arbeiter eine abfällige Bemerkung über Johann Pütz gehört. Er verstand es, ich glaube ohne es zu wollen, in seiner trockenen ulkigen Art eine Gesellschaft zu unterhalten. Mit dem Güterbahnhof und auch mit den Landwirten pflegte er ein gutes Zusammenarbeiten. Man konnte sich ihn als Vorbild nehmen.

Einmal, es muß 1955 oder 56 gewesen sein, denn es gab schon die Rundfunk- und Fernsehzeitung Hör-Zu, stellte er mir die Frage, ob er seinen Jungens im Alter von 14 und 16 Jahren je einen Regenschirm zu Weihnachten schenken könnte oder sollte? Da ich noch viel vom 1000- jährigen Reich und noch mehr aus der Soldatenzeit in den Knochen hatte, kam mir schon die Zumutung, einem Jungen in dem Alter einen Schirm zu schenken absurd vor. Er hatte meine Meinung natürlich seiner Frau kundgetan und sagte am nächsten Morgen zu mir:„Moll! do häste dir bei minger Frau ever e Ei en ed Neß gelet, do muß du dech anstrenge dat uszubröde.“ Gleichzeitig hatte er die Hör-Zu dabei und zeigte mir, wie die Leser sich auf eine gleichlautende Frage über Regenschirme für junge Männer äußerten. In der Hör-Zu wurden jede Woche unter‘ Was sagen Sie dazu‘ von 10 Leserinnen oder Lesern zu einem bestimmte Thema die Meinungen veröffentlicht und siehe da, sechs von zehn hatten sich für den Regenschirm entschieden. Es war kaum zu glauben, aber in Deutschland hatte sich durch Reklame in Presse und Rundfunk ein deutlicher Wandel vollzogen, und ich war bei Frau Pütz in Ungnade gefallen.

Trotzdem freute ich mich immer wieder auf die nächste Kampagne, es kam jedesmal ein schöner Batzen Geld zusammen und die Leute in der Fabrik waren größtenteils nette Menschen. Selbst die Männer in den Schnitzelschuppen,  die kaum aus den Augen sehen konnten und den Staub als dicke Schicht am ganzen Körper trugen, waren prima Kollegen. Zum Glück wurde diese harte und unsaubere Arbeit in den folgenden Jahren durch Entstaubung, Abruch der Absackanlage und nachher durch das Pelletieren der Schnitzel zu einer angenehmen Angelegenheit.

Im privaten Bereich wurde Jahr für Jahr das bei der Zuckerfabrik hart verdiente Geld entweder in den Laden investiert (Kühlmöbel, Aufschnittmaschine usw.) oder als Grundstock für einen Neubau gespart. Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, wo Tag für Tag und Woche für Woche von früh bis spät, ja manchmal bis in die Nacht körperlich hart gearbeitet wurde, stelle ich fest, daß Arbeit manchen Schmutz vom Menschen fern hält. Es gab weder Drogen- noch Alkoholsucht, noch konnte man drei mal jährlich in Urlaub fahren und trotzdem gab es Zufriedenheit. Ich hatte immer einen echten Vergleich, weil ich ¾ des Jahres im Tante-Emma-Laden tätig war und den Rest des Jahres in einer Fabrik arbeitete, wo ich mit Führungskräften aber auch mit ganz einfachen Menschen zusammenkam. Bei jeder ersten Gehaltsabrechnung in einer neuen Kampagne konnte ich feststellen, daß mein Gehalt und somit auch alle Löhne wieder um 5 bis 7% aufgebessert worden war, wogegen die Preise, sei es Baumaterial oder auch Lebensmittel, kaum angezogen hatten. Das mußte aber auch so sein, denn der kleine Mann hatte bis dahin immer nur die Haut zu Markte getragen und konnte nun auch seinen Rücken mal gerade machen. Leider fruchtete das nicht bei jedem, denn mit dem eigentlich längst verdienten Wohlstand kam und kommt heute noch Unzufriedenheit sowie deren Begleiterscheinungen.

In unserem Laden wurde das Sortiment immer größer, vielfältiger und anspruchsvoller. Hier einige Beispiele. Mein Schwiegervater verkaufte vor dem Krieg 25 kg einfache Blut- und Leberwurst und vielleicht 5 kg beste Wurst, bei uns war es umgekehrt und als dann Kochschinken und Pasteten noch hinzu kamen, wurde kaum noch eine einfache Wurst gekauft. Wir sind in all den Jahren von der Metzgerei Deuss aus Wevelinghoven mit Wurst und Fleischwaren bedient worden und ich erinnere mich noch gut daran, als der Seniorchef  mal erzählte, daß er den Wurstkessel teilweise mit fettem Speck heizen würde. Erzählenswert ist auch die Sache mit der Büchsenmilch: Glücksklee war wohl die erste Marke, die wir im Sortiment hatten, sie kostete 30 Pfennig, es kamen dann einige billige Sorten hinzu. Plötzlich kam Bärenmarke auf den Markt mit einem Verkaufspreis von ich glaube 45 Pfennig, wo keiner mit gerechnet hätte, ein Jahr später beherrschte die Sorte den Markt. Hierzu noch eine Anekdote: Futze Nis (Fräulein Conrads) führte ihrem ledigen Bruder den bäuerlichen Haushalt. Es standen um die drei Kühe im Stall, die es einfach nicht erlaubten, Büchsenmilch für den Kaffee zu kaufen. Eines Tages konnte Nis nicht widerstehen und nahm für einen Feiertag ein Büchschen  Milch mit, verstaute dies in ihrem Einkaufskorb und meinte, wenn der Chef dat süt bön ech ärm dran. Der Chef hat sogar probiert und ist bei Büchsenmilch für Kaffee geblieben.

Futze Nis war immer eine Augenweide, gleich wo man sie traf, ob in ihrer Küche, auf dem Weg zur Kirche oder beim Einkauf. Kopftuch, gestreifte blauweiße Schürze, Korb und Holzschuhe gehörten zu ihr. Auch wenn im Winter der Weg nach Fürtherberg verschneit und glatt war, Nis ließ den Kindern die Rutschbahn, von ihr wurde kein Gramm Salz gestreut. 

Mehrere Jahre später kam einmal ein Vertreter  in Hunde- und Katzenfutter. Als ich dem Mann klargemacht hatte, daß wir uns hier noch auf dem flachen Lande befinden und unmöglich Chappi und Kittekat verkaufen könnten, meinte dieser:“ Bestellen Sie je ½ Karton, wenn die Ware bei meinem nächsten Besuch in 4 Wochen nicht verkauft ist, bekommen Sie von mir den Geldwert von 2 Kartons.“ Der Vertreter hat den Geldwert nicht zahlen müssen.

Auch im eigenen Haushalt machte sich der Wohlstand bemerkbar. Weil ich nicht immer die Zeit fand, den Schweinestall zu fegen, wurde keines mehr gefüttert. Bei der letzten Schlachtung mußte ich die Blutpfanne halten und das Blut rühren. Da meinte unser Hausschlächter Lorenz Schönen, ich sei blasser als das Schwein. Von daher war mir der neue Zustand sehr recht, man konnte nämlich von den Angeboten im Laden etwas mehr Gebrauch machen.

In so einem Laden war ja immer etwas los. Was man heute aus Zeitung und Fernsehen erfährt, hat man früher alles in den Läden mitbekommen. Die schönste Zeit im Geschäft war für mich in unserem alten Knusperhäuschen. Es waren zwar ein paar Waagen vorhanden und auch schon ein großer Kühlschrank, aber alles andere, selbst Regale oder Fußbodenbelag, war Eigenbau. Meine erste Kundin war ein kleines Mädchen namens Adelinde. Auf mein, was darf es denn sein Kind? Die flotte Antwort:„Für den kleinen Jaki von Tante Janni einen Föppi mit nem Ring“. So etwas vergißt man nie. Kurz nach unserer Hochzeit kam Marx Täntchen und brachte meiner Frau bei, daß sie mit dem Hochzeitstag wo ich Mann geworden wäre, Frau wurde und sich nichts bieten lassen dürfe. Mit unserer ganzen Kundschaft, es war überwiegend Stammkundschaft, habe ich ein sehr gutes Verhältnis gehabt und mich  verbinden  heute noch Erinnerungen an Kunden, die länger als 25 Jahre tot sind. Als erste fällt mir Pesche Liebchen, so hieß Frau Klara Pesch im Volksmund, ein. Als ich nach Fürth kam, war sie schon alleinstehend. Ihr Mann war Schneider und er wurde von ihr sowie auch von den Fürthern “Jong“ genannt. Ihr Anwesen war zeitgemäß mit einem schönen Garten, in dem eine Laube mit Tisch und Bank war. Die Burschen in Fürth müssen wohl immer schon übermütig und mit (Streichen) Flegeleien behaftet gewesen sein, denn einer hatte sein Bedürfnis auf den Tisch gemacht, das ganze mit Kirschen aus Peschs Garten garniert und ein Plakat aufgehängt mit der Aufschrift:„Der liebe Gott ist überall, sogar bei Pesch im Hühnerstall“. Auch sonst war die Familie Pesch immer erstes Anlaufziel, um irgend etwas anzustellen, worüber Frau Pesch noch nicht einmal besonders böse war. Bei Frau Pesch genoß ich ein besonderes Wohlwollen, ich hatte sie nämlich an der Bushaltestelle in Fürth regelrecht aufgehoben. Sie lag dort auf den Knien, nachdem sie gestolpert war und keiner war in der Nähe. Als sie wieder auf den Beinen stand, wollte sie von weiterer Hilfe nichts mehr wissen. Sie ging mit mir in den Laden, setzte sich dort fünf Minuten und ging dann wieder in ihr Haus. Da ich nicht mitgehen durfte, schaute ich ihr nach und staunte, daß sie den Sturz ohne Schaden überstanden hatte. Von diesem Tage an wollte Frau Pesch nur noch von mir bedient werden, ich war der einzige, der ihre Geldbörse (dies war ein Gütermanns Nähseide Blechdöschen) in die Finger bekam, und selbst wenn Liebchen fürs Wochenende ein Kodelettchen haben wollte, mußte ich das aufschreiben oder den Metzger anrufen. Ihr Haus war mittlerweile voll belegt. Man hatte ihr massig Flüchtlinge einquartiert. Die Familie Goepen stammte aus Ostpreußen, sie bestand aus Minna Goepen (Mutter), Magda, Tochter oder auch Lehrerin, Franz  Sohn, mit Rosi als Schwiegertochter und später 6 Kindern, sowie Elvira  als Enkelkind. Die erste Zeit war Frau Pesch sehr verärgert über den nichtgewollten Zuwachs in ihrem Haus, als aber Minna und später auch Magda mit Elvira eine neue Bleibe hatten, hat Frau Pesch für die Kinder und auch für Rosi getan und gegeben was sie konnte. Minna Goepen hatte für mich Ähnlichkeit mit einer gewissen Teufelsdarstellung, wie man sie uns Kindern in früher Jugend dargestellt hat. Sie war Witwe und verfügte über ein gutes Einkommen, weil ihr Mann angeblich Beamter in Königsberg oder sonstwo gewesen war. Minna hatte auch schnell einen jungen Freier, welcher jünger wie Tochter Magda und Sohn  Franz war, aber von Faulheit protzte und es bestens verstand, nicht nur auf Minnas Kosten, sondern auch auf Kosten unseres Sozialstaates zu leben. Rosi Goepen hingegen wußte kaum von einem Tag in den anderen zu kommen. Ihr Franz hatte zwar eine schöne Stelle als Fahrer bei der Firma Wallraf, aber er war dem Suff und einigem mehr verfallen. Trotzdem hatte Rosi täglich ihre Kinder sauber und adrett gekleidet. Hier wird Frau Pesch manchmal die größte Not gelindert haben.

An Senioren gab es noch unseren Nachbarn Wilhelm Wolf, dessen Schwester Oma Esser, Marx Pitter und Täntchen, Essers (Schwattes Jean) Trippens Willhelm, den Herrn Siepmanns, Flaster Pitter (Peter Esser) und der Bauer Rütgens mit seiner Frau zählten auch schon zur älteren Generation. Mein Schwiegervater hatte mir mal gesagt, wenn du zum Finanzamt oder sonst  nach Grevenbroich mußt, fahr doch bitte auch mal bei der Wirtschaft Baumeister an, ich habe damit immer ein gutes Verhältnis gepflegt. Wie gesagt so getan, ich fuhr dort an, trank mir ein paar Bierchen, bestellte auch für die fünf anwesenden Senioren je ein Bier und einen Korn und mußte beim Zahlen erfahren, daß Frau Baumeister den Herren auch noch eine gute Zigarre auf meine Kosten verabreicht hatte.

Die Gastwirtschaft Baumeister habe ich danach nie mehr betreten. Es gab natürlich außer den genannten noch einige alte Leute. Da war die Mutter von Emma Vosen, Müllers Stiena und deren Mann, Schwattes Täntchen, Möckers Opa, die Eheleute Schönen, an deren Goldhochzeit ich mich noch erinnere, sowie Adam und Anna Walbeck  und Aretz Bell nicht zu vergessen. Aretz Billa wohnte in der Burg mit Tagage und  Vumme Trina (Peiffers Katharina) und deren Mann Engelbert  zusammen. Aretz betrieben zu der Zeit noch einen Handel mit Lumpen und Kaninchenfellen, daher war Frau Aretz auch hauptsächlich unter dem Namen Lompe Bell bekannt. Frau Aretz war eine robuste Person, sie hatte auch 6 Kinder aufgezogen und immer der Familie vorgestanden, sie hatte immer die Hosen an, wie man so sagt. Bell konnte aber auch, genau wie ein gestandener Mann ein paar Körnchen und zusätzlich einige Flaschen trinken und ging dann noch kerzengerade in ihr Gemach.

Karli Aretz, Nellas Sohn und Bells Enkel wird heute noch mit dem Namen Burggraf beehrt. Meine größte Genugtuung ist es, daß Karli ungefähr dort, wo die Burg gestanden hat, ein wunderschönes Haus gebaut hat und auch beruflich die Armut in seinen Kinderjahren vergessen kann. Karlis Mutter Nella hatte ihr ganzes Leben bei dem reichen Bauer Jean Flau gearbeitet. Nella hielt dort einen zu dieser Zeit großen Stall, mit 10 Kühen und dem dementsprechenden Jungvieh in Ordnung. Sie war zwar unverheiratet, aber kam eins Tages von der Grevenbroicher Kirmes (Markt) zurück und hatte da mit einem Schaustellergehilfen ein Techtelmechtel gehabt und Karli war folgerichtig das Ergebnis. Obwohl Karli bei Mama und Oma nicht viel lernen konnte, war er immer ein hochintelligentes Kerlchen. Einmal kam Nella mit ihm einkaufen. Trippen Hermann sagte zu Nella: “Do haste ever och ene Lömmel.“ Nella daraufhin: “wat hat de Jong dech dann jedon?“. Mech hat de niks jedon ever de hat Pastur singe Hong usjelach. Dann war Nella mit ihrem Sohn am schimpfen, wie er so etwas tun könne und Karli lachte laut und ließ uns wissen, daß unser Pastor gar keinen Hund hätte. Als Karli eingeschult wurde, konnte und kannte er nur Plattdeutsch. Die Lehrerin Fräulein Wolf hatte den Idötzen das Märchen vom Goldeselchen erzählt. Als endlich zur Pause geklingelt wurde und die meisten Kinder schon draußen waren, ging Karli zur Lehrerin und sagte: “Fraülein ech wett sune Eisel möds du er och ene han“. Fürth war und ist auch noch ein kleines Dorf mit einer Vergangenheit, die berühmte Männer, wie beispielsweise Napoleon mit seinem Stab in der Burg beherbergt hat  und  weil die Bundesstraße 1 durch unser Dorf führte, die erste Poststelle weit und breit nachweisen konnte. Nun ein Loblied auf das kleine Fürth.

 

Fürth mein Fürth wie klein bist du bloß,

du liegst so bedächtig in Elsens Schoß,

du hast keine Kirche keine Schule kein Amt,

drum wirst du auch ewig mit Kaff nur benannt,

dein Pflaster ist heiß wie die brennende Glut,

erst wenn man durch Fürth ist geht man wieder gut,

doch kommt man von Orken mal daher,

hat man einen Anblick der ist etwas wert,

da tut sich vor einem die Burg groß auf,

das wär schon etwas wo Fürth stolz sein könnt drauf,

doch in Fürth eine Burg, wie sollte das gehen

die wird wohl auf Elsener Grund und Boden noch stehn.

 

Fürth war zu dieser Zeit ein Dorf, dem alles zugemutet wurde. Die Bundesstraßen 1 und 59 kamen an der Elsener Schule zusammen und verliefen bis an der Gaststätte Faßbender in Elfgen, wo es rechts ab in Richtung Mönchengladbach ging, als eine Straße.

Was sich an Autoverkehr auf dieser Straße abspielte, ist kaum zu beschreiben. Ich habe 1950 geheiratet und dann zuerst ein Jahr in Fürth gewohnt, aber es hat Wochen gedauert, bis ich meine Nachtruhe gefunden habe. Kopfsteinpflaster, Schlaglöcher, aber vor allem die Vielzahl der LKW sowie andere Autos und Motorräder ließen keinen gerechten Schlaf zu. Wenn ich heute von Schallschutz höre, frage ich mich wie unsere Generation die ganzen Strapazen wie Krieg, Wiederaufbau und Hungerleiden überstanden hat. Ich freue mich zwar auch über jeden Fortschritt in unserer Gemeinde, aber wenn etwas mehr Maß gehalten würde, wie unser damaliger Wirtschaftsminister Erhard immer empfahl, hätte die Zufriedenheit eine höhere Rangordnung. Dieses Maßhalten wäre den Kommunen vor allem zu empfehlen, aber der alte Spruch, daß von anderer Leute Leder gut Riemenschneiden ist, hat man sich in diesen Gremien zum Prinzip gemacht. Wir haben sonntags abends  oft  an der Straße gesessen und dann neben den üblichen Gesprächen, die unter Nachbaren  geführt wurden, auch Autos gezählt, dabei kamen oft astronomische Zahlen zustande. Als die Autooffensive damals begann, war die Eifel ja ein viel- und  gernbesuchtes Ausflugs- und Urlaubsziel. Es hat sehr lange gedauert, bis die Autobahn 46 zwischen Hemmerden und Jackerath fertiggestellt wurde. Eine wirkliche Entlastung für die Dörfer und ihre Menschen erfuhren wir erst, als die Schnellstraße von der Autobahnanschlußstelle Grevenbroich bis Bedburg in Betrieb genommen wurde. Zu bemerken wäre noch, daß zuerst viele schwere Unfälle passieren mußten, bevor die genannten Straßen mit Nachdruck gebaut wurden. Das Dorf Fürth fing am Limpertz Hof an und verlief dann über die Jülicher Straße, es gab keine Nebenstraßen, bis zum Heiligenhäuschen  bzw. zählte Broich (Boksebom) halbwegs Elfgen noch dazu. Die Begrenzung in Richtung Alte Herrschaft verlief damals am Höffje, bei Pflaster Esser Peter. Dort  ging eine Gosse schräg über die Straße  in Richtung Parkplatz Faßbender, wodurch Fürth von Elsen getrennt wurde. Fürther Berg war zwar nie eine eigenständige Ortschaft, wurde aber immer als Ortsteil Fürther Berg gesondert genannt.

Zum Parkplatz Faßbender fällt mir noch folgendes ein. Während des Krieges hatte man auf dem Gelände, besser gesagt dort wo das erstgebaute  Mietshaus von Billa Faßbender steht, ein Löschwasserbecken gebaut, welches randvoll Löschwasser stand. Das Ganze war zwar abgesichert, aber die Absicherung war nicht mehr vorschriftsmäßig und zog die Kinder aus der Nachbarschaft an. Eines Tages war Hans Peter Meger gerade noch spielend von seiner Oma dort gesehen worden und im nächsten Moment vom Erdboden verschwunden. Oma Esser mit über 70 Jahren ahnte nichts gutes, lief über die Straße an das Becken und konnte ihren Enkel noch gerade vor dem Ertrinken retten. Die alte Frau war bestimmt noch nie in einer Badeanstalt oder Schwimmbecken gewesen, sie konnte auch nicht schwimmen und war doch geistesgegenwärtig genug, den Jungen dort heraus zu holen.

Nun mal wieder zur Zuckerfabrik!  Ich hatte mittlerweile einige Kampagnen im Bahnwiegehaus mit Lust und Liebe absolviert, als mein Vorgesetzter Johann Pütz mich morgens schon informierte, daß ich wohl ins Zuckerverrechnungsbüro versetzt würde. Dort hatte man einen Mann eingestellt, der sich als guter Buchhalter angepriesen hatte aber keineswegs den anfallenden Buchungen gerecht wurde. Nun klingelte auch schon das Telefon und ich wurde zum Herrn Rodrigo zitiert. Der informierte mich dann hauptamtlich und wies mich in die Arbeit der Zuckerverrechnung ein. Er wollte den Mann nicht entlassen und versuchte auf diesem Wege, ihn weiter zu beschäftigen. Bei dieser Gelegenheit muß ich bemerken und betonen, daß Pfeifer und Langen immer sozial eingestellt gewesen ist. In den vierzig Jahren, die ich dort in fast allen Abteilungen gearbeitet habe, habe ich es oft erlebt, daß Alkoholsüchtigen so gut wie Verschuldeten oder auch Langzeitkranken immer  geholfen und wenn möglich wieder in die Normalität versetzt wurden.

Im Zuckerverrechnungsbüro wurde der reine Rübenwert mit den polarisierten Zuckerprozenten multipliziert und somit der Zuckerwert errechnet.

Eine Buchung in der damaligen Form sah ungefähr so aus:

 

Dat.

Kto. Nr.

Probe Nr.

Reine Rüben

Zucker

Prozent

Zucker-wert

20.11.62

143604

256

112,40 dz

15,7

17,65 dz

 

Von diesen Buchungen paßten 33 auf ein Journal, welches auf eine Buchungsplatte geheftet war. Man begann jede Buchung mit einem Haken in der zu buchenden Zeile, um nicht zwei Buchungen aufeinander zu schreiben. Diese waren dann schlecht zu identifizieren. Auch zu dieser Zeit wurden in Wevelinghoven täglich zwischen 750 und 800 Fuhren angenommen, wozu dann noch die Bahnrüben (Waggons) kamen. Abends mußten immer Meldungen errechnet und geschrieben werden. Die Eingänge waren aufzuteilen in eigene Fuhr- und Bahnrüben, Rüben aus Belgien, Rüben aus Friesland und Rüben von fremden Fabriken. Die hohen Herren von Pfeifer und Langen, aber auch der Zoll wollten täglich wissen, wie alt aber auch wie reich sie waren.