Bei der Arbeit im Verrechnungsbüro kam mir auch
wieder meine gelungene Lehrzeit zu gute. Hier war Maschinenrechnen und logisches Denken
gefragt. Ich brauch mir nicht selbst auf die Schulter zu klopfen aber darf behaupten, daß
ich auch in der neuen Abteilung meine Arbeit zu aller Zufriedenheit und mit Freude
erledigt habe. Eine Erinnerung aus dieser Zeit ist folgende: Ein Kollege im Büro hieß
Deckenbrok, er war ein erstklassiger Buchhalter, aber keiner von uns wußte, daß er
psychisch krank war. Als erstmalig einer von der Toilette kam und festgestellt hatte, daß
Deckenbrok dort seine Apfelsinen verzehrte, kamen die ersten Zweifel auf. Seitdem ich in
dem neuen Aufgabengebiet tätig war konnte ich mittags zu Hause essen. Mit der Stunde
Pause ging das alles etwas knapp auf, aber ich war noch jung und dann wurde eben etwas
stärker in die Pedalen getreten. Eines mittags komm ich vom Essen zurück und stellte
fest, daß die Rübenfahrzeuge bis zum Amtsgericht standen. Beim Eintritt ins Büro habe
ich wohl gesagt:Heute platzt die Bombe und dabei aber erwähnt, daß soviel
Fahrzeuge unterwegs sind und unser Feierabend mit einem Fragezeichen versehen wäre. Herr
Deckenbrok war zwar etwas unruhig und ging einige Male mehr als üblich nach draußen,
aber keiner wußte warum. Abends nach 20.00 Uhr kam dann der Herr Rodrigo und erzählte
uns, daß Herr Deckenbrok weinend beim
Direktor Wunderlich wäre und sich bei uns bedroht fühlte. Er glaubte, ich hätte eine
Bombe in meiner Aktentasche, die irgendwann explodieren würde. Wir hatten nachher und am
folgenden Tag viel Mühe, Herrn Deckenbrok zu überzeugen, daß nirgendwo ein
Sprengkörper war. Es wäre uns und auch Herrn Deckenbrok viel erspart geblieben, wenn die
Betriebsleitung uns über die Krankheit unseres Kollegen informiert hätte. Im Jahr darauf
machte Deckenbrok auch noch die Kampagne mit. Die buchhalterischen Leistungen waren noch
immer gut, aber die Krankheit war auch enorm fortgeschritten. Wir hatten z.B. einen neuen
Rübenbüroleiter namens Otto Besser bekommen. Dieser hatte irgendwann 2 aufeinander
gebuchte Buchungen annulliert und erneuert, aber eine Notiz darüber geschrieben und
abzeichnen lassen. Deckenbrok seinerseits war daraufhin während des Jahres, also obwohl
er nicht mehr bei der Fabrik war, nach Köln zur Hauptverwaltung gefahren, um den Herrn
Besser dort anzuschwärzen. Daraufhin bekam Wevelinghoven Besuch von der damals höchsten
Kontrollperson der Firma Pfeifer und Langen, und zwar erschien Dr. Haberecht persönlich
und sah sich die angezeigten Fehler an. Bei manuellem Buchen durfte ja weder radiert noch
überschrieben werden, man konnte zwar eine Zahl durchstreichen, aber alles mußte
leserlich bleiben. Herr Deckenbrok hatte sich natürlich mit dieser Attacke von der Firma
für immer verabschiedet.
Otto Besser
war zwar ein ehemaliger Offizier bei der Wehrmacht gewesen, hatte aber einige
Seminare besucht und konnte auch Kentnisse vorweisen. Ich behaupte, daß mit ihm die
ersten Rationalisierungsmaßnahmen bei der Zuckerfabrik Einzug hielten. Herr Rodrigo war
als Direktor nach Ameln versetzt worden und Herr Besser hatte nun Gelegenheit, sich in
Wevelinghoven zu beweisen. Er war der erste Vorgesetzte, der seine Mitarbeiter immer und
überall mit einbezog und profitierte letztendlich von dieser Maßnahme nur. Zu dieser
Zeit bekam Pfeifer und Langen die erste Buchungsmaschine, womit einmal die Materialbuchung
des Magazins und zum anderen die gesamte Zuckerverrechnung verbucht wurde. Bis dahin hatte
jeder Landwirt ein Wiegebuch mit Blättern, in dem dann die einzelnen Werte wie Brutto, Tara, Netto, Schmutz % und Reine Rüben verbucht wurden. Nun bekam der
Landwirt einen Buchumschlag, worin die einzelnen Wiegescheine Fuhre für Fuhre mit den
gleichen Werten wie früher eingeklebt wurden. Die Wiegescheine waren aus
Durchschreibepapier und in doppelter Ausführung, wobei der linke Rand der Durchschrift
mit Leim versehen war und dann angefeuchtet und eingeklebt wurde. Auf dieses System wurde
dann aufgebaut, sei es zur Zeit der Lochkarte oder Lochstreifen. Selbst zum Schluß meiner
Tätigkeit, als wir mit ID-Karte und Hofkarte (Schlüssel)
arbeiteten, war das Wiegescheinsystem natürlich mit allen erdenklichen Daten noch
in Mode.
Da die manuelle Zuckerverrechnung nun
überflüssig war, wies man mir wieder ein neues Arbeitsgebiet, und zwar die
Fuhrwiegehäuser und das Rübenlabor zu. In diesem Bereich arbeitete ich bis zu meiner
Pensionierung im Jahr 1992. Nachdem ich ein Jahr mit Erfolg in den Fuhrwiegehäusern
gearbeitet hatte, wurde ich nach der Kampagne überall wo einer fehlte oder krank war
eingesetzt. Ich habe in der Lohnbuchhaltung so gut wie im Magazin oder im Zuckerversand
gearbeitet und habe alle Arbeiten mit Freude erledigt. Nun war auch für mich die Zeit
gekommen, wo mein Einsatz belohnt wurde. Ich bekam, nachdem einige Herren in Rente
gegangen waren einen sehr großen Kontrahierbezirk. Für die aus meinem Bezirk gelieferten
Rüben bekam ich pro dz 0,02 DM und hatte
dadurch bei nicht übergroßem Arbeitseinsatz ein sehr gutes Nebeneinkommen. Der Herr
Besser hatte sich mittlerweile gut eingearbeitet und wurde auch bei der Hauptverwaltung,
also bei der Hauptgeschäftsführung, akzeptiert und anerkannt. Er hatte ein enormes
Auffassungsvermögen, hatte aber auch für seine Mitarbeiter und für jeden kleinen
Hilfsarbeiter Verständnis. Sein VW-Käfer und eine rasante Fahrweise brachten ihm den
Namen der schnelle Otto ein. Leider war der schnelle Otto von schlimmen
Rückenschmerzen befallen. Neue Hüften gab es damals noch nicht, darum schickte man ihn
in Kur. Aber die Kur wurde ihm zum Verhängnis, er lernte dort eine Frau kennen und wollte
von seiner Frau nichts mehr wissen. Es kam soweit, daß seine Frau die Wohnung
abgeschlossen hatte und er die Tür aufbrach. Daraufhin stellte der Herr von Langen klar,
daß der schnelle Otto bei ihm eingebrochen hätte und entließ ihn fristlos.
Da ich mit dem Herrn Besser ein gutes Verhältnis
pflegte, war mir diese Regelung nicht nach der Nase. Der neue Leiter des Rübenbüros
hieß zwar Peter Zimmermann und war ein guter Klassenkamerad von mir, aber mir wurden
nicht die geringsten Vorteile in den Jahren unserer Zusammenarbeit zuteil. Wir haben uns
zwar bestens verstanden, aber wenn etwas nicht in oder an der Ordnung war, war ich der
Prügelknabe.
Es ist interessant, was man in seinem Arbeitsleben
alles an Vorgesetzten gehabt hat. Bei mir fing es mit dem Herrn Rodrigo an, als nächster
trat der Herr Besser für einige Jahre in Erscheinung, dann betrat bis zur Rente im Jahr
1992 der Herr Zimmermann die Bühne. Die genannten Herren sowie die Personalleiter Herr
Kluge und Herr Vent hatten zu ihrer Zeit alle Prokuravollmacht. An Direktoren habe ich
folgende Herren kennengelernt: Herr Erich vom Scheidt, Herr Wunderlich, Herr von Döring,
Herr Mosig und den für die Wevelinghovener Belegschaft leider zu früh verstorbenen Dr.
Hermann Lührs. Vor dem Herrn Erich vom Scheidt war dessen Vater der Herr Eugen vom
Scheidt als Direktor in Wevelinghoven tätig. Den habe ich nur vom Hörensagen
kennengelernt, aber er muß wohl immer und überall geachtet und geehrt worden sein. Herr
Hoppe sen., der ca 50 Jahre im Rübenbüro arbeitete, erzählte mal, daß Eugen vom
Scheidt seinem Direktorkollegen Herrn von Lyliensgold in Dormagen, per Postkarte
natürlich, über irgend etwas sein Erstaunen ausgedrückt hatte. Prompt kam zwei Tage
später die Antwortkarte aus Dormagen mit der Bemerkung:Ich bin erstaunt über dein
Erstaunen. Es war immer interessant den Herren August Hoppe, Franz Weyermanns und
Johann Köhlings zuzuhören, wenn diese aus ihren ersten Berufsjahren ab und nach der Zeit
des ersten Weltkrieges erzählten. Ich werde im Laufe meiner Erinnerungen noch Gelegenheit
haben von und über diese drei Herren zu berichten.
Den Herrn Erich vom Scheidt, der wohl in der
Aktivität unserem letzten Chef Dr. Lührs am meisten gleichkam, habe ich auch kaum als
Fabrikdirektor erlebt. Er hat die Fabrik nach dem Krieg aufgebaut und nahm in dem Moment,
wo man beim Zoll die Kompensationsgeschäfte in unserer Fabrik entdeckt hatte, alle
Verantwortung auf sich. Er wurde verhaftet und eingesperrt, und da er einer
Religionsgemeinschaft angehörte, die eine Inhaftierung ausschloß, nahm Herr vom Scheidt
sich zum Entsetzen aller das Leben. Herr vom Scheidt hätte bei einer Gerichtsverhandlung
kaum mit nennenswerter Strafe rechnen müssen, er hat sich mit dem Wiederaufbau der
teilweise zerstörten Fabrik, besonders aber mit dem Neubau unseres Bürogebäudes,
welches heute noch steht, ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Der Herr Wunderlich war für mich eigentlich der
erste Direktor, welcher auch die Geschicke
der Fabrik hätte leiten und lenken müssen. Er war ein feiner Mensch, der nach den alten
Gepflogenheiten in Ostpreußen zwar eine Zuckerfabrik geleitet hatte, aber in
Wevelinghoven nicht genug Durchsetzungsvermögen zeigte. Es gab einen Meister Holz, der
die Fäden in der Hand hatte, ob es um Personalfragen, um Einkäufe oder um den Einsatz
von Fremdfirmen ging, Holz hatte überall seine Finger drin. Ohne sein Wohlwollen war es
schwer, selbst talentierte Leute unterzubringen. Herr Holz war zwar ein sehr guter
Siedemeister, aber er war so arrogant, daß er sich um Sachen kümmerte, die vom
Betriebsleiter oder Direktor hätten erledigt werden müssen.
Da sich meine Einnahmen wie gesagt sehr verbessert
hatten, war es für mich selbstverständlich unseren Laden zu erneuern. Mein
Schwiegervater war zwar der Meinung, den Fachwerkgiebel umzukrempeln und auf Umbau zu
gehen, wogegen ich auf Neubau setzte und mich auch durchgestzt habe. Auch hierbei war mir
Pfeifer und Langen wieder enorm hilfreich, ich hatte nämlich vom Meister Holz schon die
Zusage ein Transportband zu bekommen, und bekam bei den späteren Bautätigkeiten jeweils
einen Bagger für die Ausschachtarbeiten. Da die Familie Merzenich mit ihrem Schwiegersohn
einen Wohnungswechsel nach Orken vollzog, konnte ich schon
den Abbruch vorbereiten. Unser ehemaliger Hausschlächter Lorenz Schönen wollte
mir unbedingt bei dem Abbruch helfen. Er hatte zwar vor Jahren eine
Unterschenkelamputation verkraften müssen, fühlte sich aber wieder sehr fit. Bei allen
Bautätigkeiten, die sich auf unserem Grundstück vollzogen haben, habe ich immer die
Versicherung der Bauberufsgenossenschaft in Anspruch genommen. Als ich den ersten
Bauantrag einreichte, war das alte Haus schon abgebrochen und die Baugenehmigung kam erst,
als Keller und Erdgeschoß im Rohbau fertig war. Aber fangen wir mal vorne an. Frau
Merzenich lud unten ihre Möbel auf und rief denn nach oben, wo wir die alten Dachziegel
entfernten: Hans das ist wie im Zirkus, unten spielt die letzte Vorstellung und oben
wird schon abgebrochen. Ja, wir haben richtig abgebrochen, jeder Holznagel wurde
zurückgeschlagen und entfernt. Dann wurde Sparren für Sparren und Balken nach Balken,
ohne Säge abgebaut. Die einzelnen Verbunde wurden zuerst entfernt und der anfallende Lehm
und Heu konnten in Feldwegen und alten Mulden entsorgt werden. Der gesamte Kelleraushub
wurde mit Spaten und Schaufel über ein Transportband auf LKW oder landwirtschaftliche
Fahrzeuge verladen und in alte Hohlwege gefahren. Die Woche hatte immer viel zu wenig
Stunden. Es ging täglich von 6.00 bis 19.00 Uhr auf der Zuckerfabrik und anschließend
wurde am Bau gehandlangert oder Gerüste usw. für den nächsten Tag vorbereitet. Gerüste
und Verschalung waren kaum zu bekommen. Es wurden oft Provisorien fabriziert, die auch die
großzügigste Berufsgenossenschaft nicht sehen durfte. Zum Glück hatte ich in Hans Pick
einen Fürsprecher bei seinen Brüdern im Baugeschäft. Ich hatte nämlich einige Male auf
Kirmes Hubert Reibel vertreten und dem Baustoffhandel mehrere große Partien ausgefahren.
Man war bei Pick scheinbar mit meinen Leistungen zufrieden und kam mir immer großzügig
entgegen. Was auch für alle kleinen Selbsthilfebauer (Schwarzbauer) von Nutzen war, war
die monatliche Erstellung der Rechnung. Man hatte einen Monat Material bekommen und
erhielt erst um den 10. des nächsten Monats die Rechnung. Auch möchte ich noch
erwähnen, daß die Familie Pick, obwohl sie das nicht nötig hatte, manchmal in meinem
Laden für ihren Haushalt so gut wie auch zu Weihnachten für die Belegschaft große
Einkäufe getätigt hat. Hier ist noch anzufügen, daß Picks nicht einfach drauf los
kauften, sondern qualitäts- und preisbewußt ihr Geld ausgaben.
Meine, heute würde man sagen flexible Arbeitszeit
erlaubte es mir, wenn nicht gerade Kampagne war, gut bezahlte Arbeiten wie z.B. Umzüge
und dergleichen mitzumachen. Mein Schwager Ludwig machte bei der Spedition Clemens manche Fahrt, wo ich als
Beifahrer fungierte. Auf den Rückfahrten brachte ich beispielsweise sämtliche
Hohlblocksteine aus der Gegend um Neuwied mit. Für diese Rückfrachten brauchte ich dann
nur geringe Frachtkosten zu zahlen. Die eigentliche Arbeit fing aber dann erst an.
Bei unserem ersten Neubau war das Fachwerkhaus
abgebaut und ein alter Keller mußte vom
Gewölbe befreit werden. Dann wurde der vorhandene Raum mit starken Balken eingeschalt,
damit beladene LKW darüber fahren konnten. Wir haben das ganze Baumaterial für den
Keller und teilweise fürs Erdgeschoß, ob Steine, Sand oder Kies, in unserem ehemaligen
Garten gelagert und dann erst den Keller wie gesagt mit Spaten, Schaufel und Transportband
ausgehoben. Beim Abladen der Ziegelsplittsteine für den Keller haben wir immer blutige
Finger gehabt, Handschuhe gab es auch zu dieser Zeit noch nicht. An diesen reinen
Männerarbeiten war meine Frau immer maßgeblich mitbeteiligt. Obwohl unser Neubau
gegenüber der alten Straßenflucht 1,50 m zurück versetzt wurde, war es unmöglich - ich
erwähnte die Situation schon - vor der Baustelle bei dem enormen Verkehrsaufkommen
mehrere Tage etwas auf Vorrat zu lagern. Es wurde eigentlich nur von der Hand in den Mund
gelebt, alles mußte gut durchdacht sein, um termingerecht Rohbau- und Fertigbauabnahme
über die Bühne zu bringen. Wir hatten uns vorgenommen, im November, spätestens Dezember
1955 den neuen Laden zu eröffnen und das Erdgeschoß bis dahin fertig zu haben.
Leider Gottes muß ich mal ausschweifen mit meiner
Erzählung. Ich habe einige Abende versucht meinen Rhythmus zu finden, aber da wir
(Europa) uns seit Mittwoch in einem Krieg befinden, gehen mir Gedanken durch den Kopf, die
eine Konzentration auf das Schreiben meiner Erinnerungen kaum zulassen. Es ist mir
unbegreiflich, daß zivilisierte Menschen, die schon lange die Todesstrafe abgeschafft und
in allen Belangen menschenfreundlich und kultiviert sein wollen, so einfach einen kleinen
Staat mit Bomben, also mit Feuer und Schwefel belegen. Ob diese Menschen, die den Befehl
für ein solches Inferno geben, sich im Klaren sind, vielleicht einen Weltkrieg vom Zaune
zu brechen, oder ob diese Leute schon mal einen Bombenangriff überstanden haben? Meine
Gedanken sind bei den Soldaten, bei deren Eltern aber besonders bei den Zivilisten. Man
hört von Massaker und Greueltaten und fragt sich, was haben wir und erst recht die
Amerikaner in Jugoslawien zu suchen. Den Serben sagt man Mißachtung der Menschenrechte
nach und glaubt, mit Mordinstrumenten dort eine Besserung zu erzielen. Vielleicht sind
meine Überlegungen und Empfindungen nicht die richtigen, aber Tatsache ist doch, daß die
Menschen in Jugoslawien unter Tito miteinander in Frieden gelebt haben. Ebenfalls hörte
man doch von Urlaubern die dieses Land besuchten immer nur von netten Menschen, gleich wo
das Urlaubsziel war. Dieser Mittwoch, der 24.03.99, war für mich ein trauriger Tag, aber
als ich abends die Sendung mittwochs mit, diesmal mit Jean Pütz, weil Carola
Stern erkrankt war sah, stellte ich fest, daß Jean Pütz auch regelrecht geschockt war.
Er erzählte dann noch ein schreckliches Jugenderlebnis, wo in Köln von 60 Menschen, die
im Luftschutzraum waren, er und vier andere lebend herausgekommen sind. Derartige
Originalsendungen bringen nämlich die Regungen und Gefühle eines Menschen sehr viel
deutlicher auf die Mattscheibe wie Aufzeichnungen. Ob die Politiker, die vor nicht langer
Zeit all das, was heute unter dem Leitgedanken Europa für gut geheißen wird, noch scharf
verurteilten, je ein ruhiges Gewissen haben können ist mir schleierhaft. Ich möchte aber
trotzdem mit politisieren aufhören, weil mein stiller aber flammender Protest nicht viel
bewirken wird.
Unser neuer Laden, wobei ich unterbrochen wurde,
wurde am 5. Dezember 1955 also am Tag vor Nikolaus eröffnet. Der Laden war fix und fertig
sowie das hinter dem Laden liegende Zimmer. Dieses Zimmer sollte eigentlich Warenraum
werden, wurde aber vorerst als Küche verwendet. Unser Flur diente als Warenlager, dort
standen vor allem die Vorräte an Sprudel, Limonade und Bier. Als ich meinem
Schwiegervater offerierte eine Heizung einzubauen, weil die obere Etage ja noch im Rohbau
stand, meinte Opa:Wenn du den Ofen in der Küche heizt, bekommst du den Laden so
warm, daß dir die Kundschaft laufen geht. Opa war ungefähr 5 Jahre in russischer
Kriegsgefangenschaft gewesen, hatte Verzichten und Entbehren gelernt, aber hier war seine
Prophezeiung total daneben. Wir bekamen nämlich einen Winter, der es überflüssig
machte,noch über eine Heizung zu diskutieren. Meine Frau und auch meine Schwiegermutter
hatten, obwohl der Herdofen in der Küche sehr gut geheizt wurde, alle Finger mit
Frostbeulen behaftet. In unserem provisorischen Warenlager, dem Hausflur, sind uns
dutzendweise die Limo- und Sprudelwasserflaschen geplatzt. Nun kam die Diskussion auf
Heizkörper im Schlafzimmer oder nicht. Hierbei lieferte ein Herr Delhofen den
richtigen Kommentar, als er meinte: Die Reichen haben den Armen immer erzählt, daß
das Schlafzimmer ohne Heizkörper sein sollte, wobei deren Schlafstuben allerdings gut
bestückt waren, man kann einen Heizkörper ja auch abdrehen.
Zu bemerken wäre noch, daß der Rohbau bis
Fertigstellung der ersten Etage keinen Tropfen Regen erlebt hat. Als aber die schwerste
Arbeit, ein ca 8 m langer Eisenträger (Painer) 33 cm, mittels Dreibaum verlegt werden
mußte, erlebten wir ein Gewitter mit enormen Regengüssen. Die ganzen Arbeiten an unserem
Haus sind nach damaligen Vorgaben in guter Qualität von meinen ehemaligen Schulkameraden
Alex Holz, Hans Königs, Gustav, Hans Schiffer und dem Senior Herrn Stiller getätigt
worden. Ich darf behaupten, vorne und hinten dabei gewesen zu sein und die schwersten
Handlangerarbeiten selbst übernommen zu haben. Wenn eine Betondecke gegossen wurde, hatte
ich vor 6 Uhr schon 70 Sack Zement abgeladen und aufgestapelt. Hierbei darf ich nicht
vergessen, daß ich in Schlägers Hubert und Trippens Hermann zwei gute Helfer hatte. Beim
Betonieren einer Decke einschließlich Treppe war natürlich die ganze Familie mit
eingespannt. Die beiden Opas versorgten die Betonmaschine mit Wasser und Zement und die
Frauen hatten ihre Arbeit mit Essen vorbereiten und Getränke an die Männer zu
verabreichen. Hermann Trippen war im ersten Weltkrieg verwundet worden, er hatte ein
steifes Bein, ich glaube ich erwähnte schon, daß er weder lesen noch schreiben konnte.
Dafür ging ihm die Arbeit gleich welcher Art aber von der Hand wie einem Meister. Er
bestach nicht nur durch sein Arbeitstalent, sondern brachte durch seine Erzählungen und
Witze die ganze Kolonne in einen freudigen Arbeitseifer. Über Hermann könnte man ein
Buch mit mehreren Bänden schreiben. Er erzählte jedem der es hören wollte, daß er
anstelle die Schule zu besuchen den Hof von Jüdde Luwi (Ludwig Frank) ansteuerte, und
dann mittags trotzdem mit den anderen Kindern nach Hause kam. In seiner Jugendzeit
bespannte er manchmal den Jagdwagen, brachte einige seiner Freunde, natürlich alle in
teils geliehenen Anzügen zum Dycker Weinhaus, kassierte
von den Freunden leihweise aber für alle gut sichtbar dicke Trinkgelder und
wartete, bis das Fahrzeug mit den angeblich
gut betuchten Herren wieder in Richtung Elsen wollte. Hermann war immer eine Seltenheit.
Wie gesagt im ersten Weltkrieg schwer verwundet, fand
er seine Heimat wieder, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte. Er blieb trotz seiner
Behinderung in der Landwirtschaft tätig. Später wechselte er in die Industrie. Bei der
Firma Maschinenfabrik (Buckau) wäre ohne Hermanns Kehr- und Putzkunst nichts gelaufen. Er
war bei der Direktion sowie bei jedem Arbeiter bekannt und beliebt.
Nach den Wirren des zweiten Weltkrieges heiratete
er seine Eva, die als Flüchtling aus Ostpreußen kam und gut und gerne Hermanns Tochter
sein konnte. Bevor die beiden aber zum Standesamt gingen, mußte Futze Nis (Fräulein
Conrads) gut zureden und Eva ihrem Hermann beibringen, seinen Namen zu schreiben. Als es
aber darum ging, die Unterschrift unter das Heiratsdokument zu leisten, stellte sich laut
Geburtsurkunde heraus, daß Hermann-Josef der richtige Vorname war, aber Josef war ja
nicht geübt. Der Standesbeamte, der den lieben Hermann auch kannte, konnte seinen Trumpf
aber nicht ausspielen, denn Hermann war mit der Situation zuerst vertraut und
sagte:Eva, ich habe die Brille vergessen, du mußt mir die Hand führen.
Einige Jahre später hatte Hermann von den Tabletten seiner Frau einige eingenommen, stieg
in Fürth noch in den Bus und mußte dann bei Buckau schlafend ins Pförtnerhaus getragen
werden.
Als unser Haus fertig war, bekam Hermann
selbstverständlich bei uns eine Wohnung.
Hier mußte ich oft friedenstiftend eingreifen,
denn Eva war nervlich sehr strapaziert und Hermann, mittlerweile ein alter Mann, hatte
dann nicht viel zu lachen. Er ist uns für alles immer dankbar gewesen und wir versuchen,
unseren Dank ihm gegenüber in regelmäßiger Grabpflege auszudrücken. Hermann
hinterließ seiner jungen Frau eine gute Rente, Eva machte noch den Führerschein und fuhr
einen schönen Mercedes. Ansonsten war ich heilfroh, als sie damals eine andere Wohnung
nahm, sie half meiner Frau zwar beim Saubermachen, aber wir mußten uns viel von ihr
bieten lassen. Durch ihre nervöse und hektische Gangart bekam sie mit allen Leuten Krach
und glaubte, das bei uns breittreten und uns in diese Streitigkeiten mit einbeziehen zu
müssen
Unser Haus wurde ab 1955 in drei Bauabschnitten
fertiggestellt. Zuerst der Laden, dann der Anbau und zuletzt wurde die Nr. 14 errichtet.
Alles wurde in Eigenhilfe erbaut und den Vorschriften entsprechend mit Bauanträgen und
Erlaubnis, Rohbau und Fertigabnahmen sowie besonders dem Geldbeutel entsprechend
fertiggestellt. Meine Schwiegereltern bewohnten den Anbau, Familie Trippen hatten die
Erdgeschoßwohnung im Haus Nr. 14 und den
ersten Stock bewohnte die Familie Klasen. Nachher haben wir den Speicher noch ausgebaut,
wo die Familie Peter Krüppel dann einzog. Im allgemeinen sind wir mit sämtlichen Mietern
gut zurechtgekommen, obwohl es Steine zum Anstoßen genug gegeben hat. Man sollte wenn
möglich jeden Streit vermeiden solange es eben geht, denn es gibt nichts schlimmeres, als
an Mithausbewohnern oder auch Nachbarn vorbeischauen zu müssen oder wollen.
Der Herr Klasen beispielsweise war Meister im
Installateurhandwerk und beim Gas- und Wasserwerk beschäftigt. Er war froh eine Wohnung
zu bekommen und mir kam seine Hilfe beim Verlegen der Wasserleitungs- und Abflußrohre
sehr gelegen. Seine Frau war eine attraktive Blondine, der man, wenn man sie nicht kannte,
den Titel einer Modepuppe verleihen würde. Robertchen machte die Familie komplett, er war
der Mittelpunkt der Familie, zwar erst zwei Jahre alt, aber sehr lebhaft und intelligent.
Obwohl unsere Balkongitter die vorschriftsmäßigen Abmessungen haben, überlistete Robert
als Zweijähriger alle Vorschriften und stand urplötzlich auf dem Dach unseres Anbaus.
Robert hatte auch schon früh Malerqualitäten, er hatte nämlich die weißen Fugen des
Badezimmers mit echtem Blaustift übermalt. Als Familie. Klasen nach einigen Jahren
auszog, war noch nicht der geringste Versuch unternommen worden, den Blaustift zu
entfernen. Auch war es bei Klasen üblich, den Ruß und die Asche in Herd und Ofenrohr als
Umzugsgut zu betrachten und von einer Wohnung in die andere mitzunehmen. Wir haben mit
Klasen und auch mit anderen Mietern kaum mal einen Wortwechsel gehabt, man macht in
solchen Fällen besser eine Faust in die Tasche und die Fugen selbst sauber, als ewig
Unfrieden und Krach im Haus zu haben.
Jetzt aber wieder zurück zum ersten Neubau. Der
Laden war wie gesagt fertig eingerichtet und lief auch recht gut. Die Einrichtung machte
gegenüber dem alten Laden einen freundlichen Eindruck und das große Schaufenster, schön
dekoriert, lud die Kundschaft zum Einkauf einfach ein. Das Bauen ging unbehindert, so wie
Geld vorhanden war weiter und über die wirklich notwendige Heizung wurde nicht mehr
diskutiert.
Leider lag unser Geschäft an einem toten Ende, wo
auch so schnell keine Baugebiete erschlossen werden, mit anderen Worten: Wir mußten mit
und in allen Warengattungen präsent sein, konnten aber nie mit großem Zulauf oder neuen
Kunden rechnen. Unsere Kundschaft kam aus Fürth, Fürther-Berg und Elsen und war
Stammkundschaft. Als die B 1 und 59 noch durch unser Dorf verlief, hatten wir auch
LKW-Fahrer und Vertreter, die regelmäßig unseren Laden aufsuchten. Als nun die Autobahn
44 und die neue Schnellstraße in Betrieb waren und von den oben genannten kam ab und zu,
trotz Umweg, einer in den Laden, freute man sich ganz besonders.
Der neue Laden, so schön er war, brachte auch
manche negativen Aspekte mit sich. Das Schaufenster mußte immer schön dekoriert werden,
die Einrichtungsgegenstände wie Waagen, Kühlmöbel und Aufschneidemaschinen mußten
ständig den neusten Vorschriften entsprechend sein. Ich hatte einen Freitagabend, nachdem
meine Frau den Laden geputzt hatte, das Schaufenster neu dekoriert. Als meine Frau mein
Wunderwerk betrachtete, sah ich an ihrem Gesichtsausdruck schon, daß dies nicht nach
ihrem Geschmack war. Trotzdem bestand ich auf meine Dekoration und siehe da, am nächsten
Morgen wurden mehrere Lobeshymnen auf das schön dekorierte Schaufenster seitens der
Kundschaft laut.
Ebenso stieß ich zuerst auf Granit, als ich
unsere Registrierkasse gegen eine Addiermaschine eintauschen wollte. Ich wollte lediglich
erreichen, daß meine engste Verwandtschaft nicht ganz so viel und immer wieder
kontrollierend rechnen mußte. Auch lag es mir im Magen, daß zu deutsch jeder dumme Junge
uns Verkäufer, vor allem aber meine Schwiegermutter einige Male hintereinander in die
gleiche Ecke schickte, wo der jeweilige Artikel im Regal untergebracht war. Das
Rationalisieren und Konzentrieren, wie es zu der Zeit überall in den großen Firmen
anlief, ließ mich manche Nacht nicht
schlafen. Als mein Entschluß nun feststand und ich meinen Leuten kundtat, daß ich den
Laden umkrempeln wollte, und die Artikel, die jeder zweite Kunde kaufte, in greifbare
(Armweite) Nähe einsortieren wollte, gab es zuerst auch Widerstand. Sortimentmäßig
paßte da zwar nicht alles wie vorher; aber die Wege innerhalb des Ladens wurden kürzer.
Es war wohl in den Jahren um 1960, wo sich alles
revolutionierend veränderte. Wir hatten bis dahin fast jeden Tag den Vertreter einer
anderen Firma und dementsprechend auch täglich Warenanlieferungen. Fachliteratur lehrte
und zeigte uns, daß in Amerika die Geschäfte noch konzentrierter geführt wurden. Auch
wir konzentrierten uns auf einen Lieferanten und zwar auf die SPAR. Wir wurden montags von
deren Vertreter und zwar immer um die gleiche Zeit besucht, und mittwochs bekamen wir die
Ware angeliefert, so daß für derartige Belange nur noch die Hälfte der Zeit beansprucht
wurde. Der Vertreterbesuch wurde oder konnte durch Ausfüllen des Ordersatzes verkürzt
oder konnte auch ganz entfallen.
Unser neuer Laden war noch keine fünf Jahre alt,
als die Selbstbedienung überall Einzug hielt. Wir kamen einfach an dieser neuesten
Entwicklung nicht vorbei. Zu dieser Zeit gab es zwar noch keinen Allkauf oder Aldi, aber
wenn wir damals unsere Bude geschlossen hätten, hätten wir viel Geld gespart. Nun wurde
aber wieder mit persönlichem Einsatz und Kapitalaufwand Haus und Laden umgebaut und eine
Verkaufsfläche von 75 qm geschaffen. Die Ladeneinrichtung war nur zu geringen Teilen noch
verwendbar und in der Zeit des Umbauens mußte weiter verkauft werden. Man denkt heute
daran zurück und fragt sich, wie man diese Anstrengungen überhaupt verkraften konnte.
Ich behaupte, daß eine Arbeitszeit von täglich 14 Stunden bei uns nichts
Außergewöhnliches war. Wenn ich zu dieser Zeit die Zuckerfabrik nicht als zweites aber
stabiles Standbein gehabt hätte, wären solche Aktionen nicht möglich gewesen. Für mich
war es immer schlimm, wenn die Einkommensteuererklärung von unserem Steuerberater
erstellt wurde. Wenn es dann hieß: Einkommen aus nicht selbständiger Arbeit und das
schon einmal versteuerte Geld wurde zu den Einkünften aus unserem Laden addiert und noch
einmal versteuert.
Festhalten möchte ich noch, daß meine Frau und
ich von den Genüssen des Lebens kaum etwas abbekommen haben. Wir kannten weder
Konzertveranstaltungen noch Urlaubsreisen oder sonstiges Vergnügen. Da wir unsere
Schulden übersichtlich halten wollten, gab es zwar genug zu Essen und Trinken, auch war
immer für ein gemütlich warmes Haus gesorgt, aber ein Auto z.B. kam für mich erst zur
Zeit der Kubakrise in Frage.
Der kalte Krieg drohte damals zu einem
glühend-heißen zu werden, Amerikaner und Russen standen sich, bis zu den Zähnen mit
Atombomben bewaffnet gegenüber und die Welt war in Angst und Schrecken versetzt. Gott sei
dank wurde dieses Unheil in letzter Minute abgewendet. Auf Grund dieser Situation
entschloß ich mich, mein Schuldenkonto um ein par tausend Mark anwachsen zu lassen. Mein
Nachbar Hans Winzen verkaufte seinen Käfer. Dieser war erstklassig gepflegt und hatte
noch nicht einmal 60.000 km gelaufen. Ja, Hans Winzen war Postbeamter und ließ seinen
Wagen bei Regenwetter in der Garage und fuhr
dann mit dem Fahrrad. Mein Vater lieh mir für 6 Monate 2.500 DM und ich wurde stolzer Autobesitzer. Diesen Wagen
kaufte ich im Jahr 1963, und als ich gut 10 Jahre später in Nordspanien meinen ersten
Urlaub verbrachte, hingen die Nummernschilder meines Wagens dort in einer urigen Kneipe an
der Wand. Ich hatte das Auto nämlich wohlbehalten an einen der ersten spanischen
Gastarbeiter verkauft.
In den Jahren von 1960 bis 1970 nahm unser Land
einen gewaltigen Aufschwung. Ludwig Erhard hatte als Wirtschaftsminister ganz erstklassige
Erfolge zu verzeichnen. Ob Bauwirtschaft, Industrie oder Handel, alles und überall sah
man die Früchte der Arbeit reifen. Die
deutschen Arbeiter und Angestellten verdienten mittlerweile sehr gut, viele bauten sich
ein Häuschen, wobei der Staat aber auch einige große Firmengruppen ihre Leute finanziell
unterstützten. Es gab kaum noch eine Familie wo nicht wenigstens ein Auto in der Garage
stand. Die Straßen konnten den Autoverkehr kaum noch bewältigen. Folglich wurden neue
Straßen und Autobahnen gebaut, so daß eine Konjunktur die andere antrieb. In dieser Zeit
prägte man auch den Slogan:Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind.Dieser
Ausdruck hat sich ja nachweislich bis heute bewahrheitet, der Treibstoff, die Versicherung
und auch die Steuer können noch so teuer werden, das Auto gehört überall zum Inventar.
Natürlich waren es nicht nur Autos und die
Autoindustrie, die uns zum Wirtschaftswunderland werden ließen. Der soziale Aufschwung in
unserem Land ist von jedem kleinen Arbeiter sowie von unseren Ingenieuren und Technikern
hart erarbeitet worden. Auch die deutsche Landwirtschaft hat in dieser Zeit maßgeblich
die Wirtschaft mit geprägt, in den ersten Nachkriegsjahren haben die Bauern uns mit den
primitivsten Maschinen und Geräten unser täglich Brot erarbeitet. Später erwuchs ein
enormer Wirtschaftszweig, welcher die Landwirte mit modernsten Traktoren und Maschinen
ausrüstete. Man höre und staune: die Bauern wurden in ein soziales Netz mit Kranken- und
Rentenversicherung eingereiht und manches Bäuerlein fuhr künftig so oft wie möglich in
Kur. Unser Volk hatte tatsächlich die schrecklichen Kriegsjahre ignoriert und verhalf
unserem Land wieder zu einem Ansehen in der Welt, wie es besser nicht sein konnte.
Immer wieder hörte man, daß unsere so hart
erarbeiteten Errungenschaften alle aus Amerika stammten und dort schon seit eh und je die
Menschheit begleiten. Nun kamen aber auch und zwar sehr schnell einige Negativposten wie
Drogen, Korruption, Sexualdelikte und viel Unangenehmes und Verwerfliches über den
großen Teich.
Man kann leider nicht nur das Gute übernehmen und
alles andere abwenden. Glücklicherweise haben wir uns über 50 Jahre aus jedem Krieg und
anderen Auseinandersetzungen fernhalten können. Die Kirchen, die den zweiten Weltkrieg
halbwegs akzeptiert haben, sind während der Zeit des kalten Krieges und bei anderen
fragwürdigen Machenschaften immer ruhig geblieben, obwohl die vorhandene Substanz doch
langsam weniger wird. Bei der Taufe fängt es schon an. Früher, als die Kinder wirklich
wie Sand am Meer das Licht der Welt erblickten, mußte das Kind sofort getauft werden, es
durften höchstens fünf bis sechs Tage verstreichen. Heute lassen die Priester oft fünf
bis sechs Kinder zusammen kommen, bevor das Sakrament der Taufe erteilt wird. Ob die
Frauen nach der Geburt noch ausgesegnet werden, was ich übrigens immer für Hohn hielt,
entzieht sich meiner Kenntnis. Das Fest der Erstkommunion ist auch zu einem zivilen
Wohlstandsbekenntnis geworden. Die kirchlichen Feiertage werden zwar der Bezahlung wegen
gerne hingenommen, aber der tiefere Sinn gilt nicht mehr. Christi Himmelfahrt hat man zum
Vatertag erkoren und an Fronleichnam ziehen auch noch Prozessionen, aber die Beteiligung
wird von Jahr zu Jahr spärlicher. Unser derzeitiger Oberpfarrer betreut zur Zeit drei
Dörfer mit jeweils schönen Kirchen, wogegen unsere Pfarrei alleine in früheren Jahren
immer noch einen Kaplan hatte.
Die beiden großen Konfessionen haben es nicht
verstanden, die Jugend bei der Stange zu halten. Da haben scheinbar auch ein Konzil oder
andere tiefgreifende Reformen nichts retten können. Junge Menschen sind ja bestens
informiert und sehen wie und was selbst Präsidenten und Staatsoberhäupter oder
sogenannte Stars ihnen vorleben. Während meines Berufslebens habe ich in der
Landwirtschaft viele tiefgläubige Familien kennengelernt, wo auch mit der Jugend alles
stimmte. Dort ist man heute überall sehr traurig, weil ihre Kinder die Kirche nur noch
als Dorfmittelpunkt kennen.
Meine Einstellung mag zu konservativ erscheinen,
aber wenn ich diesen englischen Blödsinn in Zeitungen, Magazinen und selbst in
Telefonrechnungen sehe und lese, kommt mir die Galle hoch. Die wunderbaren Worte wie
Mutter, Vater, Kinder, Fern- und Auslandsgespräche werden in einer Art ruiniert und
verstümmelt, die man sich nur bei uns angeblich hochintelligenten Deutschen erlauben
kann. Man mag mich diesbezüglich be- oder verurteilen wie man will, unsere Sprache ist
zwar überaus schwer zu erlernen, aber dafür ausdrucksvoll und besonders im deutschen
Lied durch nichts zu ersetzen.
Es gibt viele Neureiche, die glauben, durch eine
mit Fremdwörtern durchsetzte Redensart ihre angeborene Dummheit und andere, nicht gerade
positive Eigenschaften übertünchen zu können. Wenn die Welt in 100 Jahren noch besteht,
wird wohl der fleißige und ehrliche auch dann
noch seinen Weg machen.
Nun möchte ich mich aber mal wieder angenehmeren
Erinnerungen widmen. Bei der Zuckerfabrik wurde ich von Jahr zu Jahr mehr eingesetzt.
Außer der Betreuung der Landwirtschaft im
Außendienst holte man mich überall dort hin, wo gerade einer krank oder in Urlaub war.
Ich bekam überall Einblick, ob Magazin, Zuckerlager, Zuckerversand, Lohnbüro und vor
allem Rübenbüro, was sich im Laufe meines Berufslebens positiv auswirkte. Von den 12
Monaten im Jahr war ich wenigstens 10 für oder bei Pfeifer und Langen tätig und es ließ
sich kaum übersehen, daß man mich dort gerne als Angestellter ganz einstellen würde.
Der damalige Direktor von Döring war Vorsitzender
des Modellfliegervereins. Er kam sonntags mit seinem kleinen Sohn zum Modellflugplatz, wo
wir uns dann begegneten. Dabei meinte er ganz unverblümt:Ich habe mir eben ihren
Laden mal angesehen, Sie haben dort viel Geld investiert, aber die Zeit der kleinen
Geschäfte ist vorbei, fangen Sie ganz bei uns an und machen Sie den Laden zu. Das
waren harte Worte, aber im nachhinein muß ich Herrn von Döring uneingeschränkt Recht
geben. Am 15.09.1966 begann für mich die Kampagne und gleichzeitig die feste Anstellung.
Unseren Laden aber haben wir erst 10 Jahre später ganz geschlossen. Die Einrichtung war
ganz neu und die Kundschaft war uns ans Herz gewachsen und umgekehrt fühlten wir uns den
Kunden gegenüber verpflichtet. Die Gesellschaft war damals noch nicht ganz so herzlos wie
heute. Wir haben unserem Gefühl entsprechend gehandelt und glauben immer noch, daß es so
richtig war. Außerdem hatte ich mittlerweile mit Frau Peil, die zu dieser Zeit bei der
Grevenbroicher Molkerei arbeitete, Verbindung aufgenommen, die dann unser Geschäft für
einige Jahre pachtete. Hier muß ich auch wieder betonen, daß bis heute noch eine
freundschaftliche Verbindung zwischen unseren Familien besteht. Wir haben uns nie
gegenseitig über den Tisch ziehen wollen, sondern uns gegenseitig geholfen und
unterstützt. Als Peils ihr Haus in Frimmersdorf bauten, war meine Hilfe von vornherein
eingeplant. Arno war einmal mit seinen Arbeitskollegen zu einem fragwürdigen
Wochenendausflug nach Mönchengladbach gefahren. Als er am nächsten Morgen gegen 6.30 Uhr
noch auf der Verlustliste stand, wurden wir zuerst angerufen und um Rat und Hilfe gebeten. Umgekehrt gäbe es genug
Beispiele zu beweisen, daß es sich immer um ehrliche Freundschaft gehandelt hatte.
Bei der Zuckerfabrik verlief die Kampagne für
mich wie gewohnt, die Arbeiten bei der Rübenabnahme waren für mich wie geschaffen. Nach
Kampagneschluß verlagerte sich mein Arbeitsgebiet ins Rübenbüro. Dort waren die Herren
August Hoppe, Franz Weyermanns und Johann Köhlings die Männer, die alle anfallende
Arbeit bewältigten. Es darf nicht vergessen werden, daß zu dieser Zeit alles manuell,
also ob rechnerisch oder schriftlich, alles wurde mit Federhalter und Tinte zu Papier
gebracht. August Hoppe war der sogenannte Bürovorsteher. Er schrieb runde 1000
Abrechnungen und das dreimal im Jahr, wobei ihm als Hilfsmittel eine mechanische
Rechenmaschine (Handantrieb wie eine Orgel) als Hilfsmittel zur Verfügung stand. Herr
Hoppe und seine Mitstreiter waren Kaufleute alten Stils. Ihre Geburtsdaten waren im 18.
Jahrhundert beheimatet. Die Arbeitszeit während der Kampagne betrug von Montag bis
Samstag 12 Stunden und sonntags von 7 bis 12. Wenn Mitteilungen an die Landwirte
verschickt werden mußten, verlängerte sich die Arbeitszeit dementsprechend. August Hoppe
hatte als Lehrling bei Pfeifer und Langen in Elsen angefangen und war, als das Elsener
Werk geschlossen wurde, nach Wevelinghoven übergewechselt. Er war ein überaus fleißiger
Mann, der bei der Arbeit höchst selten eine Pause einlegte. Von Neuerungen gleich welcher
Art wollte er nicht viel wissen. Wenn er morgens zum Dienst erschien, hatte er seiner Frau
oft schon eine oder auch zwei Maschinen Wäsche geschlagen. Obwohl bei ihm nichts am Geld
scheiterte, kam eine elektrische Waschmaschine oder andere elektrische Geräte erst ins
Haus, wenn eine 100 % Garantie gegeben war, daß kein Elektrisieren oder andere
Unfallgefahren vorhanden waren. Er und seine Frau hatten große Angst vor allem, was mit
Strom angetrieben wurde. Sein Sohn Adolf war auch bei Pfeifer und Langen und machte dort
die Lohn- und Personalabteilung. Dieser war modern und fortschrittlich in jeder Beziehung.
Adolf hatte zuerst ein Fahrrad mit Hilfsmotor, sattelte aber schnell zum Auto um. Vater
Hoppe war ein Leben lang per Fahrrad zur Fabrik gekommen und mußte dann Not oder Übel in
den Wagen seines Sohnes umsteigen. Das war zwar gemütlicher, aber ihm war dieses
Gemütliche auch schnell an seiner Körperfülle anzusehen. Im gesamten Rübenbürobereich
gab es nichts, was August Hoppe nicht hätte regulieren können. In den letzten Jahren
seines Berufslebens war er auf einem Ohr etwas schwerhörig, wenn man dann mit ihm
sprechen wollte, hieß es immer Jung komm hier von dieser Seite, söns verston ech
nix. Leider mußte er ganz zum Schluß, also kurz vor seiner Pensionierung, noch die
Anfänge des Lochkartensystems mitmachen. Auch dabei gab es große Schwierigkeiten, war es
doch die erste Generation der jetzigen Datenverarbeitungstechnik. Wenn unser damaliger
Cheffahrer Josef Korbmacher dann von der Hauptverwaltung zurückkam und die sogenannten
Daten stimmten wieder mal nicht, konnte man Herrn Hoppe und den anderen älteren
Kaufleuten eine gewisse Genugtuung anmerken.
Franz Weyermans war Mengenbuchhalter im
Rübenbüro. Er war einige Jahre bei der Hauptverwaltung in Köln gewesen. Da seine Frau
aber sehr krank war, hatte man ihn nach Wevelinghoven versetzt. Von hier hatte er doch
bessere Voraussetzungen, seiner kranken Frau hilfreich beizustehen. Herr Weyermanns war
eigentlich ein lebensfroher Mensch aber konnte während der Jahre, wo seine Frau krank
war, nie an einer Veranstaltung oder Feier teilnehmen. Er wurde damals schon ein
Vorruheständler, man hatte ihn nämlich auf Grund der geschilderten Situation schon mit
63 Jahren pensioniert. Franz Weyermanns hat schwere Jahre durchgemacht, wurde aber dann
doch etwas entschädigt, indem er Jahre danach eine nette Frau heiratete und er selbst bei
guter Gesundheit weit über 90 Jahre alt wurde.
Dann war da noch Johann Köhlings, eine Seele von
Mensch. Er hatte erst nach dem Krieg bei der Zuckerfabrik angefangen und hatte früher
beim Arbeitsamt gearbeitet. Man erzählte, daß Johann wegen seiner Parteizugehörigkeit
nicht oder noch nicht wieder bei dieser Behörde anfangen konnte. Es war im
Hitlerdeutschland ja so, daß Beamte oder Angestellte in Staatsdiensten logischerweise
Parteigenossen waren. Johann Köhlings jedenfalls war ein ehemaliger Staatsangestellter
mit einer außergewöhnlich schönen, sauberen Schrift. Das Rechnen war nicht so sein
Fall, weil er eben immer seine Schrift in den Vordergrund bringen mußte. Dies wurde bei
der Zuckerfabrik erkannt und anerkannt und alles, was an renommierte Adressen ging, war
von Johann geschrieben. Mit ihm hatte ich ein besonderes Verhältnis, ich sagte Vater zu
ihm und er sagte Jong. Ohne weiteres hätte er mich, wie er sagte, auch als Schwiegersohn
akzeptiert. Außer seiner Frau bestand seine Familie noch aus drei verheirateten
Töchtern. Johann Köhlings war ein Familienvater, der für alles sorgte, er hatte bei
Pfeifer und Langen viele Freunde, ob Schreiner, Schlosser oder Elektriker, wenn Johann
eine Kleinigkeit nötig hatte, wurde er bedient. Einmal mußte sein Küchentisch mit neuem
Linoleum bespannt werden, er hatte dafür von unserem Schreiner kleine Leisten nötig, die
den Tisch dann wieder komplett machen sollten. Unser Meister Holz war in der Schreinerei
und fragte nach dem Besteller der Tischleisten. Dann leimte er diese zusammen,
beschriftete sie mit dem Wortlauf, gestohlen bei der Zuckerfabrik Wevelinghoven kurz vor
der Osterbeichte 1963, verpackte sie schön und sorgte, daß Johann die Holzleisten gut
ans Fahrrad gebunden bekam. Die Reaktion in der Familie war, obwohl die Leisten neu und
weder geleimt noch beschriftet zur Verfügung standen, nicht sehr positiv. Johann
Köhlings machte jedes Spielchen mit, er veräppelte auch andere Kollegen und mußte darum
ab und zu auch mal einstecken.
Leider wurde er eines Tages herzkrank. Er hatte
ohne es zu wissen einen Herzinfarkt bekommen. August Hoppe schickte ihn, weil er eine
kreideweiße Gesichtsfarbe hatte, zum Arzt und dieser gleich ins Krankenhaus. Zum Glück
erholte er sich nach einigen Wochen wieder. Unsere Firma war auch in dieser Angelegenheit
sehr großzügig, Johann brauchte keinen Kampagnedienst mehr zu machen, hatte sein eigenes
Büro im ehemaligen Knechtestübchen und konnte die Arbeitszeit nach seinem Gutdünken
einteilen. Während der Kampagne löste er uns schon mal zum Essen oder wenn einer zur
Toilette mußte, ab. Bei Toilette muß ich an ein tolles Erlebnis mit ihm denken. Ich
mußte eigentlich unbedingt die Toilette aufsuchen. Als ich ihn um Ablösung bat, meinte
Vater: Jong ech möt ever och unbedingt ich darauf dann bitte mach
voran und beeile dich bitte. Kurz darauf kam er ins Wiegehaus und scheuchte mich raus, er
konnte angeblich noch aushalten. Im Verwaltungsgebäude auf der ersten Etage waren zwei
nebeneinanderliegende Toiletten, man kam die Treppe hoch und lief gegen den Toilettenraum.
Ich nahm auf der Toilette, die rechts lag, Platz, hatte kaum mit meinem Geschäft begonnen
da hörte ich, wie Vater keuchend den Raum betrat, sich niederließ, aber nicht die Türe
abschloß. Jong ech kunt net mi waade, e wor rief, mach dat du eronger kütz. Daraufhin
machte ich etwas schneller wie gewohnt, machte zuerst die Tür zur Treppe und dann die von
Vaters Klo auf, und stellte mich ans Waschbecken und wusch mir gemütlich die Hände. Das
Bild was sich mir bot war einmalig, er saß auf dem Topf, hatte den Hut mehr im Gesicht
als auf seinem Kopf und bedachte mich mit einer Kanonade Schimpfworte, die eigentlich zu
ihm gar nicht paßten. Die Tür, die nach außen bzw. zur Treppe zeigte, habe ich dann
geschlossen und ging ins Wiegehaus. Kurze Zeit später kam Johann Köhlings, steckte
seinen Kopf durch die Tür und meinte:De kunst du für 21/2 kg net koofe.
Wir haben immer sehr viel Spaß untereinander
gehabt. Der eine veräppelte den anderen, aber letztendlich waren wir doch eine
zusammengehörende Einheit, wo jeder für jeden da war. Mittlerweile war der Herr Grandke
noch zu uns in den Rübenbürokader gestoßen. Er sollte den Herrn August Hoppe mal als
Bürovorsteher vertreten. Ich war zwar nicht zu dumm für diesen Posten, aber mein
Sitzfleisch war noch nicht genug trainiert. Johann Köhlings behauptete immer, ich hätte
sehr oft das Laufhöschen an. Außerdem war ich dazu auserkoren, zwischen Fabrik und
Landwirten die richtige Verbindung herzustellen. Bis dahin machte das unser Herr Kaulen
mit großem Talent. Leider war Karl Kaulen aber sehr krank und konnte dieser Aufgabe kaum
noch nachkommen. Das Rübenbüro war zu dieser Zeit mit den Senioren August Hoppe und
Johann Köhlings, die beide dem Ruhestand entgegen gingen, Hans Grandke und mir besetzt.
Köhlings, Grandke und ich fuhren täglich per Fahrrad zur Arbeit und August Hoppe wurde
von seinem Sohn Adolf per Auto chauffiert. Einmal, kurz nach der Kampagne, begann es gegen
15.00 Uhr an zu schneien. Bis zu unserem Feierabend 16.30 Uhr hatte sich schon eine enorme
Schneehöhe angesammelt. Grandke und ich beschlossen, mit Johann Köhlings über
Noithausen zu fahren, um ihn wohlbehalten nach Hause zu bekommen. Das gelang uns auch und
Familie Köhlings war froh, ihren Haushaltsvorstand wohlbehalten zurückzuhaben.
Der nächste Morgen gestaltete sich aber etwas
schwieriger. Vater hatte seine Arbeitszeit so eingerichtet, daß er gegen 8.45 Uhr meist
im Büro war. Es wurde 9.30 Uhr und Vater Köhlings fehlte immer noch. Dann meinte Herr
Hoppe, ich sei der Jüngste und müßte ihn in Noithausen abholen. In der Nacht hatte es
noch einige Zentimeter dazu geschneit, und als wir per Telefon erfuhren, daß Johann schon
½ Stunde unterwegs sei, war ich sehr unruhig und beeilte mich, den gewohnten Weg durch
den Bend in Richtung Noithausen zu kommen. Es dauerte gar nicht lange, als ich in der
Ferne einen dicken dunklen Fleck in der schönen Winterpracht entdeckte. Man sagt ja immer
- wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht aufzukommen. Vater war vom Fahrrad gekommen, lag auf dem Bauch,
sein Hut und seine Brille waren ihm abgefallen und er sprattelte wie ein Trockenschwimmer
im Schnee. Als ich mich nach seinem Befinden erkundigte, konnte ich, obwohl die Situation
ernst war, mein Lachen nicht verbergen. Er daraufhin: Jong, wenn de mech jetzt objeholpe
hast trett ich dech et iesch ens en de Vott, dann kanst du wieger lache. Nachdem wir seine
Brille auch wiedergefunden hatten, ging unser Marsch in Richtung Zuckerfabrik, wo wir dann
pünktlich zum Mittagessen eintrafen. Wir haben damals bei unserer anstrengenden Arbeit
und langen Arbeitszeit immer noch Zeit gefunden, uns gegenseitig auf den Arm zu nehmen.
Ich muß noch festhalten, daß auch die Herren Senioren Hoppe, Weyermans und Köhlings in
der Mittagspause mit uns knobelten. Jeder hatte drei Streichhölzer in der Hand, und dann
wurde die Faust auf den Tisch gelegt und die Anzahl der vorhandenen Streichhölzer
geraten. Der Einsatz bei diesem Spiel war nie mehr als 10 Pfennige, und trotzdem sah man
den Senioren an, daß zu deren Zeit auch der Groschen einen enormen Wert hatte.
Nachdem die Herren Hoppe und Köhlings in den
hochverdienten Ruhestand gewechselt hatten, war das Rübenbüro von Hans Grandke und mir
sowie von den Damen Frau Korbmacher (Fräulein Deden) und Otti Schmitz (Fräulein Klaßen)
lange Jahre besetzt. Als erste Feststellung kann ich mit Stolz behaupten, daß ein
derartiges uneigennütziges Zusammenarbeiten kaum irgendwo und irgendwann stattgefunden
hat. Es ist mir nicht bekannt, daß wir einmal eine nennenswerte Auseinandersetzung gehabt
hätten. Selbst unsere Herren Prokuristen haben diese Tatsache mehrere Male erwähnt. Auch
darf ich genauso stolz darauf hinweisen, daß die genannten Damen und alle Frauen, die
danach zu uns kamen, sehr gerne und mit Freude bei uns ihren Dienst getan haben.
Die Zeit der Lochkarte war für unsere Frauen
besonders schwer. Es ist manche Träne geflossen, wenn Josef Korbmacher aus Köln
zurückkam und ein kompletter Tageseingang, ca 1000 Fuhren, mußte neu gelocht werden.
Später bei den Lochstreifen war die Technik etwas ausgefeilter und alles klappte besser.
Man konnte sich sogar hier und da ein Späßchen erlauben. Frau Korbmacher mußte einmal
etwas früher nach Hause und fuhr darum mit dem Bus (Rheinbahn). Während sie das letzte
Journal lochte, ging ich hin und füllte ihre Geldbörse mit diesen Locherschnitzel, die
beim Lösen der Fahrkarte einigen Wirbel auslösten. Frau Korbmacher brauchte aber keine
Reinigungsgebühr zu zahlen, weil sie so ein nettes Mädel sei, wurde gesagt. Als ich
einige Sonntage danach in Elsen die Messe besuchte und andächtig dem Oberpfarrer
lauschte, bemerkte ich plötzlich die grünen Locherschnibbel auf meinem Mantel und vor
mir auf der Erde. Frau Korbmacher hatte Gleiches mit Gleichem vergolten und ich schlich
mich, diesmal schon vor dem letzten Segen, aus der Kirche.
So war das eben bei uns im Rübenbüro, obwohl
weder Grandke noch ich ein Weiberheld waren, alle Frauen kamen gerne in unser Büro und
wenn es nur aushilfsweise für einige Tage war. Es ist auch ein paar mal vorgekommen, daß
wenn eine Frau einige Wochen in unserer Atmosphäre arbeitete, sie urplötzlich schwanger
war. Dann prasselten natürlich die unbegründeten Bemerkungen auf uns hernieder. Ich
führe dieses Wohlwollen im Nachhinein darauf zurück, daß bei uns beiden so ziemlich
alles stimmte, in der Familie so gut wie im gesamten privaten und beruflichen Bereich. Bei
der Zuckerfabrik gab es ja in früheren Jahren keine Frauen in den Büros, Steno und
Schreibmaschine blieb den Lehrlingen und jungen Angestellten überlassen. Außer unseren
Frauen im Rübenbüro waren dann zwar zeitversetzt Helmi Kulartz, Gisela Monissen, Frau
Brüser, Frau Carsten, Frau Gerlich, Frau Nover, Frau Gerda Lambertz und zuletzt lange
Jahre Frau Vierkötter als Sekretärin bei unserer Firma beschäftigt. Es wäre mir ohne
weiteres möglich, das eine oder andere Anekdötchen hier loszuwerden. Tatsache ist
jedenfalls, daß mit den Damen ein neues Zeitalter bei der Zuckerfabrik anbrach. Wir
Männer hatten nicht nur unsere Kleidung mehr unter Kontrolle, auch unser Umgangston
veränderte sich von einem Tag auf den anderen. Außer den Bürodamen hatte die Firma ja
mittlerweile auch ca. 10 Zuckermäuse eingestellt. Das waren die Frauen, die an einer
Zuckerverpackungsmaschine ihre Arbeit taten. Bis dahin war Zucker nur in 100 kg
Jutesäcken oder in 50 kg Papiersäcken verkauft worden. Der Kunde verlangte aber
abgepackte Ware. Darum wurde eine Maschine installiert, die zwar die1 kg- oder auch ½ kg
Pakete abwog und zuklebte, aber die 10 kg Umpackverklebung sowie das Stapeln auf Paletten
geschah noch von Hand. Diese Frauen arbeiteten in schicken weißen Kitteln mit Häubchen
auf dem Kopf und wurden schnell und das nicht nur in der Fabrik mit Zuckermäuschen
tituliert. Hier wäre noch nachzutragen, daß diese Frauen nach Leistung (Akkordlohn)
bezahlt wurden. Leider machten auch die ihren eigenen Akkord kaputt, die Kalkulatoren
hatten nicht mit der Geschicklichkeit der Frauen gerechnet. Tatsache war jedenfalls, daß
nach einigen Wochen die Monatseinkommen der Frauen selbst die Bezüge einiger Meister und
anderer Facharbeiter überstiegen. Die neue Verpackungsanlage wurde noch einmal
durchkalkuliert, aber die Bezüge waren dann nicht mehr ganz so lukrativ. Viele Jahre
später wurden die Zuckermäuse bei der Kampagne im Rübenlabor eingesetzt und standen
unter meiner Obhut. Allen muß ich ein ganz großes Lob aussprechen, ob jung oder älteren
Datums, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Arbeitsmoral waren bei den Damen angeborene
Eigenschaften.
Festzuhalten wäre außerdem noch, daß in den
Jahren um 1965 die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Für die Zuckerfabrik flog
damals unser Meister Holz nach Nordspanien und brachte ca. 20 Arbeiter mit. Keiner von uns
konnte spanisch und umgekehrt war die Unbeholfenheit auch vorhanden .Trotzdem ist im
nachhinein die Feststellung zu treffen, daß dies ein gelungener Wurf war und von diesen
Leuten heute noch welche bei uns sind oder aber bis zur Pensionierung in unserer Firma
tätig waren.
Ich habe einige Male betont, daß bei aller Arbeit
immer noch Zeit für ein Späßchen blieb: Eines Tages kam ich zum Mittagessen, meine Frau
stand im Laden und würdigte mich nur mit einem knappen Gruß. Nach langem hin und her
zeigte sie mir dann einen Brief vom Ministerium für Bevölkerungsaufbau. Ich sollte mich
in Düsseldorf zwecks Fortpflanzungsangelegenheit
zur Verfügung stellen. Der Briefkopf sowie der ganze Brief erweckten im ersten Moment
nicht den Eindruck einer Fälschung, obwohl ich laut lachen mußte, als ich die Zeilen
las. Meine erste Reaktion: Da will Grandke mir einen Streich spielen, wovon
meine Frau nichts hören wollte. Mein Arbeitskollege war zwar ein echter Freund, aber für
jeden dummen Streich gut, aber konnte umgekehrt auch etwas einstecken. Da ich am
Arbeitsplatz über die Sache Stillschweigen bewahrte, dauerte es Monate, bevor Grandke mal
die Frage nach irgend einer Postsache von einem Ministerium erwähnte. Er war äußerst
erstaunt, daß er für mich sofort als Täter in Frage kam, was meine Frau natürlich
bestätigen konnte. Unsere Familien harmonierten auch miteinander. Außer den
betrieblichen Zusammenkünften gab es kaum ein Familienfest, an dem wir nicht gemeinsam
teilnahmen. Frau Grandke war eine nette Person, welche auch immer auf Ausgleich bedacht
war. Die drei Töchter waren alle verheiratet und hatten bei der Auswahl ihrer Partner
jeweils einen Volltreffer gelandet. Alles in allem war, wenn ein Geburtstag oder sonst
eine Feier anstand bei Grandkes immer, mittlerweile waren auch je 2 Enkelkinder vorhanden,
ein volles Haus. Hans Grandke und seine Frau waren in Glogau geboren, hatten dort eine
Bäcker- und Konditorei betrieben und wurden nun als Flüchtlinge ins Rheinland
verschlagen. Er hatte eine schwere Verwundung erlitten, so daß sein rechter Arm und seine
Hand gelähmt waren. Zuerst hatte er einige Zeit bei der Firma Schramm in Neuss
gearbeitet, wo Nudeln, Pudding und andere Back- und Kochprodukte hergestellt wurden. Trotz
seiner schweren Behinderung stand er im Beruf so gut wie im Familienleben seinen Mann.
Seine Familie und er waren Flüchtlinge, wie man sie damals kaum erleben konnte, sie
hatten echte Werte zurücklassen müssen, aber hatten den Lebensmut nicht verloren. Von
ihm konnte ich in meiner beruflichen Laufbahn manches
lernen und übernehmen. Als die Zeit und der Geldbeutel es erlaubten, haben wir
manch ein Gläschen, oder sagen wir Fläschchen, zusammen geleert. Einmal hatten wir um
eine Flasche Doornkaat gewettet, die ich dann gewann. Er kam dann tags drauf mit großer
Lederaktentasche und brachte mir damit ein Portionsfläschchen Doornkaat zu DM 1,00. Es
passierte auch, daß wir tagelang nichts zum Einnehmen hatten. Während der Kampagne kam
meist gegen 11.00 Uhr der Arzt. Dann lud der kleine Müller uns zur Sprechstunde ein und
verabreichte uns, .pro Mann 2 Schnäpschen. Der kleine Müller war Rainer Müller, dessen
Bruder Jean, der große Müller genannt, im Werk Dormagen das Rübenbüro leitete. Rainer
Müller war von seinem Bruder in Wevelinghoven eingeschleust worden, er bediente im Jahr
über die Telefonzentrale und in der Kampagne war er Bauernvertreter. Für beide Posten
war nicht unbedingt viel Können erforderlich und Rainer konnte nebenbei noch gut den
Doktor für trockene Kehlen verkörpern. Mein Kollege Grandke hatte oft Halsschmerzen und
mußte den Arzt dann zweimal aufsuchen. Grandke nahm gerne einen zur Brust, solange er
nicht Auto fahren mußte.
In den letzten Berufsjahren hatte seine Tochter
Marlies in Delrath mit ihrem Willi ein Haus gebaut und für die Eltern eine Wohnung
eingeplant. Hans war damals bestimmt 58 Jahre, als er bei mir die ersten Fahrstunden
bekam. Er brauchte nur ganz wenige Stunden beim Fahrschullehrer und kam so für wenig Geld
zum Führerschein. Auf dem Gelände der Zuckerfabrik, wo alle straßenverkehrsähnlichen
Bedingungen vorhanden waren, habe ich auch meiner Frau, meinen Schwestern und einigen
Bekannten die ersten Schritte im Autofahren beigebracht und somit manche Fahrschulstunde
gespart.
Wenn wir während der Stillstandszeit, das ist bei
den Zuckerfabriken die Zeit, wo keine Kampagne ist, also wenn keine Rüben verarbeitet
werden, mittags von Tisch kamen, war immer die erste Frage:Na was gabs denn zu
Mittag? Wenn mir dann Bratwurst gut geschmeckt hatte sprach mein Freund bei
nächster Gelegenheit von Mett im Darm. Wenn er von italienischen Röhrennudeln sprach,
hatten mir unsere Makkaroni auch gut geschmeckt. So steigerten sich unsere eingenommenen
Menüs von Woche zu Woche und unsere Mitstreiter in den Büros, die auch informiert sein
wollten, staunten über die Vielfalt der klangvollen Gerichte, die täglich von unseren
Frauen fabriziert wurden.
Nun muß ich mal über einen schreiben, der uns
allen, ob Rittersmann oder Knapp, mit seiner geistreichen, humorigen Art, selbst dann wenn
wir vor Arbeit nicht mehr weiter wußten, Freude bereitete und uns lachen ließ, wenn uns
der Kopf nach etwas anderem stand. Ich spreche von Alois Küpper, welcher bei einer
großen Baufirma, ich glaube Hoch - Tief, die bei der Zuckerfabrik die Zuckersilos gebaut
hat, die Kantine führte, und dann bei Pfeifer und Langen hängen blieb. Alois Küpper war
ein sehr intelligenter Mann, der bei uns sehr wertvoll war, weil er alle Arbeiten gleich
welcher Art zur Zufriedenheit erledigte. Er kam aus Westfalen und hatte in der Ortschaft
Busch bei Hemmerden viele Jahre als Verwalter in einem landwirtschaftlichen Betrieb
gearbeitet. In Busch hatte er auch seine Frau kennengelernt, welche er unter Freunden ein
Buschweib nannte. Dazu aber später mehr. Bei unserer ersten persönlichen Unterredung
erzählte er mir, daß er, dem Wunsch seiner Eltern entsprechend, Priester werden sollte.
Nach vier Jahren Gymnasium bekam er aber den bekannten blauen Brief mit nach Hause, womit
dieses Kapitel erledigt war. Er hatte aber immer einen guten Draht zu seiner Familie bis
ins Alter. Auch bei der Zuckerfabrik betrieb er eine Kantine, in der außer Limo, Sprudel
und Cola sämtliche auch nicht genehmigten Artikel vertrieben wurden. Vor allem war der
Umsatz in Eiern enorm. Da er mit den Bauern viel Kontakt hatte, fehlte es ihm nicht an
Eierlieferanten. Unser Prokurist Herr Kluge bekam immer ausgesuchte dicke Eier und so
dauerte es nicht lange, bis die übrigen Betriebsangehörigen alle Klugeeier haben
wollten. Die Getränke mußte er mit dem Betriebsrat verrechnen, wobei nie ein Manko
festgestellt wurde. Alois hatte immer so gut kalkuliert, daß er bei den Betriebsfesten
einige Präsente zur Verlosung stiften konnte. Er war bis auf die höchsten Herren in
unserer Firma mit allen per du und sprach jeden mit Freund an. Einmal ging ich ihn in
seiner Kantine während der Mittagszeit besuchen, er öffnete seinen Henkelmann und kippte
diesen in seinen Teller. Meine Bemerkung: Mensch, das Würstchen sieht aber nicht
besonders aus, oder hat dein Schwiegersohn dieses nicht gemocht und du bekommst es heute
serviert? Ich war schon in Deckung gegangen, er legte los aber ebbte gleich ab und
meinte, Hans du könntest tatsächlich recht haben. Als wir die Qualitäten seiner Frau
noch nicht kannten, haben wir ihn bei allen Festivitäten richtig gefüttert, er hatte
immer Durst und seine Zunge war dann sehr gelöst. Wenn er dann nach Hause kam konnte es
ihm passieren, daß er mit der Hundehütte vorlieb nehmen mußte. Als unser
Magazinverwalter Georg Braun einmal einen vierwöchigen Urlaub antreten wollte, mußten
Küpper und ich ihn vertreten. Die Materialbuchführung war mir schon länger übertragen
worden und Alois sollte die Ausgabe übernehmen. Vom Magazin aus wurden auch alltäglich
die Wetterdaten aufgezeichnet. Wir wußten, daß Alois sich trainieren sollte und
präparierten das trichterähnliche Regenmeßgefäß mit einem Kirschkern und einer
süßen Kirsche. Es hatte schon tagelang nicht mehr geregnet und somit ging alles seinen
gewohnten Gang. Als dann aber in einer Nacht ein schweres Gewitter niederging und wir
schon unseren Streich vergessen hatten, kam Alois Küpper von seiner Wetterstation zurück
und vermerkte, obwohl das gesamte Fabrikgelände mit großen Tümpeln und Pfützen belegt
war:Herr Braun es tut mir leid, aber diese Nacht hat es nicht geregnet! Dann
gab es ein wenigstens gleich schweres Gewitter,
wie in der Nacht, aber das war von Georg Braun inszeniert. Dem armen Alois war die
Primäre derart versaut, daß er am liebsten diesen Posten wieder abgeben hätte. Unsere
Betriebsleitung machte aber kein Aufsehen und nahm irgendwelche Vergleichszahlen aus
anderen Gewittern in Betracht. Die Aufregung des Herrn Braun ist aber verständlich, wenn
man weiß, wie exakt und genau, ja wie pedantisch dieser Mann war. Beispiel, Es gab im
Magazin weit über 1000 Artikel, wo laufend Zu- und Abgänge zu verbuchen waren, aber die
Bestände stimmten immer. Braun schloß abends das Magazingebäude ab, holte 10 m weiter
sein Fahrrad aus dem Ständer, ging wieder zur Magazintüre und kontrollierte noch einmal.
Böse Zungen behaupteten, wenn Georg mit seiner Frau ins Bett geht, gehört Wasserwaage
und Zollstock zum erforderlichen Werkzeug.
Georg Braun hatte eigentlich schon immer zittrige
Finger, aber konnte die kleinste Uhr reparieren oder den Kollegen auch jeden kleinen
Splitter aus dem Auge holen. An dem Abend, wo er mir für vier Wochen seinen Schreibtisch
übergab, spielte sich folgendes ab.
Der übergroße Schreibtisch war mit grünem
Linoleum bespannt und war blank geputzt wie eine Solotrompete. Die Schale, in der die
Schreibutensilien waren, ebenfalls pico- bello in Ordnung. Bleistift, Blaustift, Rotstift
und Grünstift waren alle angespitzt und lagen mit der Spitze nach links alle säuberlich
in der Schale. Als Herr Braun uns die letzten Anweisungen gegeben hatte, meinte
er:Moll, nun wünsche ich, daß ich in vier Wochen alles wieder so antreffe, wie ich
es verlassen habe!Alois Küpper darauf:Und wehe dir wenn die einzelnen Stifte
einen Millimeter kürzer oder länger geworden sind.Küpper brauchte sich dann nicht
mehr von Herrn Braun zu verabschieden.
Unser Freund Küpper war im Magazin genau so zu
Hause wie im Wiegehaus oder in der Zuckerausgabe. Er nahm Heiz- und Rohöl in Empfang oder
machte auch Waschproben, wenn Landwirte mit ihren Schmutzprozenten nicht einverstanden
waren. Einmal sprach unser Herr Kluge ihn im Wiegehaus an und meinte, wie lange wir noch
mit seiner Mitarbeit rechnen könnten. Küpper meinte schlagkräftig:Ja Herr Kluge,
wenn ich hier mal aufhöre, können sie ruhig drei neue Leute einstellen, und die brauchen
noch nicht all zu dumm sein. Ein anderes mal hatte er im Magazin Bestandsaufnahme
gemacht, als die Schlußbesprechung anstand, gefiel Herrn Dr. Haberecht von der
Hauptverwaltung nicht, daß die Inventurlisten, die ja vor Ort geschrieben werden, alle
äußerst sauber waren. Herr Kluge mußte den Zähler nach oben zitieren, dies war A.
Küpper. Die Befragung durch Herrn Dr. Haberecht ging ungefähr folgendermaßen
vonstatten. Herr Küpper, sagen Sie mir mal bitte, wie es möglich ist, daß ihre Listen,
obwohl sie gezählt und geschrieben haben, so sauber sind? Ich habe beim Zählen
Handschuhe getragen und diese dann bei den Eintragungen ausgezogen! Küpper konnte sich
dann entfernen und Dr. Haberecht fühlte sich zuerst veräppelt, aber Herr Kluge so gut
wie Dr. Lührs verbürgten sich für diese Aussage. Als Küpper bereits Rentner war und
seinen siebzigsten Geburtstag feierte, war ich bei der Abordnung, die ihn in Busch
besuchten. Seine Schwester kümmerte sich mehr um ihn und uns, wie Frau und Tochter. Man
spürte förmlich, daß seine Erzählungen über das Buschweib tieferen Sinn hatten.
Einige Wochen danach mußte ich Gut Bickhausen
besuchen, welches in unmittelbarer Nachbarschaft von Küpper liegt. Er stand in Busch,
nahe seines Hauses auf der Straße und bat mich mal reinzukommen. Wegen der mir bekannten
Verhältnisse verneinte ich, ja ich wollte ihm Unangenehmes ersparen. Dann stellte sich
aber heraus, daß er mit mir in den Garten auf eine Bank gehen wollte, wo wir uns einige
Zeit auch unterhielten. Ich verabschiedete mich dann und er brachte mich an die Straße zu
meinem Wagen. Wir wechselten noch ein paar Worte, als seine Frau per Fahrrad an uns
vorbeifuhr und ihn deutlich wissen ließ, daß die Haustüre noch aufstand. Ja Frau ich
gebe acht, war seine Reaktion. Seine Frau fuhr keine 5 Meter weiter, drehte sich auf der
Straße, sah ihren Mann noch an meinem Wagen stehen und packte dann in einer derart
unschönen Art aus, daß ich denken mußte, die Frau kann nie eine Landwirtstochter
gewesen sein, sondern kommt aus den untersten Schichten. Alois konnte mir mit Tränen in
den Augen nur sagen:Ihr habt mir ja nie geglaubt, wenn ich über mein Eheglück
sprach.
Einige Monate später kommt unsere Telefonistin in
unser Büro und erkundigt sich, ob wir die Todesanzeige von Frau Küpper gelesen hätten.
Frau Martin kannte die Verhältnisse noch etwas ausführlicher wie Grandke und ich, war
sie doch mit unserem Freund Alois zusammen nach Rom zum Papst gepilgert. Da er wegen
seiner Personalakte unbedingt an dem Tag noch erscheinen mußte, berieten wir uns über
unser Verhalten bei seinem Erscheinen. Wir drei waren einhellig der Meinung, ein
Glückwunsch wäre der Wahrheit sehr nahe gekommen, aber das war ja nicht möglich. All
unsere Beratungen und guten Vorsätze fielen wieder über den Haufen, denn er stand
nachmittags urplötzlich, von keinem vorher gesehen, auf der Schwelle unseres
Bürogebäudes und rief für jeden verständlich:Bitte jetzt keine abfälligen
Bemerkungen!Die wurden denn auch nicht gemacht, aber beim Kondolieren war auch kein
nasses Auge zu entdecken. Unserem Freund Alois waren leider nur noch wenige Jahre
beschieden. Er verunglückte mit seinem Fahrrad tötlich, nahe der Ortschaft Busch, als er
die vielbefahrene Rübenautobahn überqueren wollte.
Meine Berufslaufbahn bescherte mir nun auch einige
angenehme Überraschungen. Ich wurde zur Besichtigung bei den Saatgutzüchtern KWS, Strube
Dieckmann und Dippe eingeladen. Das waren immer lehrreiche Tage, die für mich nicht mit
Kosten verbunden waren. Ebenso wurde jedes zweite Jahr im Institut für
Zuckerrübenforschung in Göttingen eine Veranstaltung abgehalten, die drei Tage dauerte
und mit Vorträgen und Feldbegehungen großen Anklang fand. Bei diesen Gelegenheiten
konnte ich auch hier und da mal die Gepflogenheiten der sogenannten besseren Herren
kennenlernen. Ich hatte bis dahin noch nie in einem Hotel übernachtet, habe aber auch
dann nicht die Großzügigkeit der einzelnen Firmen ausgenutzt.
Wenn irgendein Dr. Agr. oder ein anderes hohes
Tier einen Vortrag gehalten hatte, wurde dieser Vortrag nach einer Pause zur Diskussion
gestellt. Hierbei kam immer viel Wissenswertes zu Tage. Mir ist noch gut in Erinnerung,
daß der Rübenbüroleiter unseres Werkes Euskirchen und sein sogenannter Wasserträger,
ein Landwirt, immer die ersten Wortmelder waren. Ihr Fachwissen war nicht angeboren, er
war ehemaliger Offizier und der Wasserträger war Landwirt. Eines Tages war bei Pfeifer
und Langen besonders in Euskirchen die Hölle los. Eine ganz junge Angestellte hatte Herrn
Schr.--- und seinen Wasserträger des vielfachen Betrugs überführt. Sein Auftreten und
die Arroganz den Mitarbeitern gegenüber hatten ihn jahrelang diese Schlechtigkeiten
ausführen lassen. Alle Pfeifer und Langen Bosse, die gehaltsmäßig auf der Wellenlänge
des Herrn Schr.--- basierten, hatten zwar den Lebenswandel (Hochstapelei und
Weibergeschichten) manchmal moniert, aber überführen konnte ihn eben nur diese junge
Angestellte, welche die Scheinkonten entdeckte. In Euskirchen wurde daraufhin aber auch
alles auf den Kopf gestellt und kontrolliert. Die höchsten Gremien unserer
Hauptverwaltung verstanden einfach nicht, daß eingefleischte alte Kaufleute im Werk
Euskirchen nicht hinter diese Schlechtigkeiten gekommen waren. Herr Schr.--- hatte es
fertiggebracht, mit Raffinesse und Frechheit alle Kontrollmöglichkeiten auszuschalten.
Eine erfreuliche Erinnerung für mich und andere
Mitarbeiter war der hundertste Geburtstag unseres Werkes Wevelinghoven im Jahr 1974.
Dieses Fest war gut und großzügig vorbereitet und in der Ausführung kaum zu
übertreffen. Vom lieben Gott, so wurde unser oberster Chef, der Herr Gottlieb von Langen
genannt, über die hiesigen Bosse aus Wirtschaft und Politik war alles anwesend. Unser Dr.
Lührs war an diesem Tag mal richtig vornehm gekleidet. Ihn kannte man eigentlich nur als
wirklichen Mitarbeiter, er packte überall an, wo es nötig war. Wenn der sich seine Nase
mal schneuzte, wurde das Taschentuch manchmal geschont und die Rockärmel beansprucht. Am
Jubiläumstag hielt er eine Festrede, die hieb- und stichfest war und von Groß und Klein
verstanden wurde. Er hatte unter anderem auch den Werkschor
unseres Schwesterwerkes Dormagen eingeladen und war von dessen Vorträgen
so begeistert, daß er an Ort und Stelle seine Belegschaft aufforderte, auch einen Chor zu
gründen. Wenige Wochen später hatten sich um die 30 Männer zusammengefunden und
gründeten den MGV Gilbach, Werkschor der Zuckerfabrik Wevelinghoven. Die ersten Monate
haben wir bei den Sangesfreunden in Dormagen geprobt,
aber bald war ein Instrument und auch ein Dirigent zur Stelle. Wir haben jetzt, im Mai
1999 zum 25. Bestehen unseres Chores ein Jubiläumskonzert veranstaltet, welches der
krönende Abschluß eines viertel Jahrhunderts Singen am Arbeitsplatz war.
Unser Dr. Lührs übernahm vom ersten Tag an die Präsidentschaft und war uns bis zu
seiner schweren Krankheit, ja letztlich bis zum Tode, ein nachahmenswertes Vorbild in
allen Belangen. Vom Krankenlager aus verabschiedete er sich mit folgenden Zeilen von
seinem Chor:
Lieber
Herr Lüngen, (1.Vorsitzende)
lieber
Adi Hermanns, (Dirigent)
meine
lieben Sänger,
zunächst
möchte ich mich für Euer Geburtstagsgeschenk ganz herzlich bedanken, danach für Euren
wunderbaren Weihnachtsgruß, mit den besten Wünschen für meine Genesung.
In
Anbetracht dessen, wie es mich erwischt hat, zählen solche Wünsche doppelt, gleichzeitig
wird einem bewußt, daß man seine persönliche Zeit wohl doch nicht immer ganz richtig
eingeteilt hat, womit ich sagen möchte, daß meine Zeit mit Euch wohl auch zu kurz
gekommen ist.
Leider
ist gewesene Zeit nicht nachholbar, so daß uns nur noch die vor uns liegende Zeit
verbleibt, die wir für ein stärkeres Miteinander nutzen sollten.
Jede
Minute, die wir nicht so nutzen, auch bei den wöchentlichen Chorproben, ist
unwiederbringbar verloren. Daran sollte uns nicht eine Krankheit erinnern, sondern der
wirkliche Sinn unseres Lebens, der allumfassend auch mit:Bewußt gelebter und
praktizierter Nächstenliebe verstanden werden kann.
Für das
bereits begonnene Jahr Euch allen mit Euren Familien alles Gute.
Es
grüßt Euch euer Präsident
Dr.
Hermann Lührs
Wie groß die Lücke ist, die durch den Tod
unseres Dr. Lührs in seiner Familie, in der Firma und letztendlich in unserem Chor
hinterlassen wurde, kann nur derjenige ermessen, der mit ihm längere Zeit zusammen
arbeitete. Ob Arbeiter oder Angestellte, ob Meister oder Betriebsleiter, alle hatten in
ihm einen Direktor, der zuerst für seine Leute da war und jedem zu Hilfe kam, gleich wo
es war. Ich brauchte einmal ein neues Auto, da ich aber zur Zeit knapp bei Kasse war, aber
die Fabrik ihren Kombi absetzen wollte, erkundigte ich mich nach dem Preis. Er nahm mich
mit in das Zimmer des kaufmännischen Leiters und machte dort den Kombi derart schlecht,
daß mir bald die Lust an diesen Wagen vergangen wäre. Als er dann aber noch laut und
deutlich dem kaufmännischen Leiter sagte:Die Kiste ist mit 1000, -- DM noch
überbezahlt, wußte ich, woher der Wind wehte. Nachdem ich diesen Wagen 1 1/2 Jahre
gefahren hatte, bekam ich beim Händler DM 2.500 Preisnachlaß
auf meinen neuen Wagen Es gab kein
Betriebsfest oder im Chor keine Festivität sowie keinen Kegelabend, wo er nicht dabei
war. Wenn man im Betrieb in Abwesenheit von ihm sprach, hieß es einfach nur Hermann.
Hermann war immer und überall zur Stelle, wo seine Person und sein Können gefragt war.
Beim Anfahren der Fabrik zur Kampagne sah seine Familie ihn erst, wenn die Fabrik lief, er
verlangte sehr viel von seinen Leuten, war aber bereit und in der Lage, das Schwierigste
selbst zu vollführen.
In der Kläranlage, und zwar im Eindicker, war
eine Pumpe verstopft. Nach menschlichem Ermessen mußten sich einige Rüben in der Pumpe
verirrt haben. Es gab zwei Möglichkeiten, den Schaden zu beheben, entweder man tauchte in
die lehmige Brühe hinein, um die Rüben zu entfernen oder man ließ den Eindicker
ablaufen und hatte in ca. 6 Stunden dann die Gelegenheit, die Pumpe zu reinigen. Hermann
entschied sich für die erste Version und übernahm die Tauchaktion im Adamskostüm
höchst persönlich. Ewald Schumacher stand mit einem sauberen Kesselanzug und einer Decke
bereit und geleitete unseren Boß dann zur Dusche. So war er in allen Belangen nicht nur
unser Direktor, sondern auch der beste Arbeiter in der Fabrik. Den feinen Herren unserer
Hauptverwaltung war unser Dr. Lührs oft etwas unangenehm. Ihm stand ein Wissen und
Können zur Verfügung, wie es eigentlich nicht vorstellbar ist. Dadurch konnte er
überall mitreden, seine Erfindungen und Patente auf dem Gebiet der Zuckergewinnung werden
seiner Frau heute noch manche Mark zusätzliche Einnahmen bescheren.
Dr. Lührs war auch ein guter Flieger, er besaß
den Flugschein für Motorflugzeuge, aber fühlte sich als Segelflieger so recht in seinem
Element. Seinem jüngsten Sohn Martin konnte er die Segelfliegerei noch aus erster Hand
beibringen. Für den Aeroclub war Hermann Lührs ein ganz wertvoller Verfechter für den
mittlerweile zur Selbstverständlichkeit gewordenen neuen Flugplatz auf der Gustorfer
Höhe. Er bemühte sich noch zwischen Landwirten und Kommunen für dieses Objekt, als ihn
die Krankheit kaum noch vom Bett los ließ. Genauso aufopferungsvoll und einsatzfreudig
war er im Tennisclub und allen anderen Vereinen oder Gremien, wo er tätig war. Keiner
brauchte ihn je für irgend etwas anzustoßen, er hatte sehr große Hände und noch
größere Füße, und so lange er gesund war, ungebändigte Kraft, die bei seiner enorm
hohen Intelligenz immer an der richtigen Stelle eingesetzt wurde.
Ich könnte von und über unseren Dr. Lührs noch
einige Seiten zu Papier bringen, aber es gab vor und nach ihm für mich Vorgesetzte, mit
denen allen ich bestens fertig wurde, aber die Bindung von Mensch zu Mensch war in diesem
Fall, und das nicht nur bei mir, doch eine besondere.
Daß Menschen zur Zeit des Arbeitslebens mehr als
¾ der Zeit an ihrem Arbeitsplatz verbringen war mir in der Jugend unbekannt. Nun ist man
bei einer Zuckerfabrik, wenn man seine Tätigkeit ernst nimmt, durch Kampagne und
Kalkausbringung besonders arrangiert. Trotzdem möchte ich nun mal wieder meinen privaten Bereich zu Wort kommen
lassen. Es fragt sich nur, wo ich wieder einen geeigneten Anfang finde.
Unsere Tochter war mittlerweile im Laden ihrer
Mutter als Lehrling tätig. Sie wurde später von Frau Peil übernommen und machte die
Kaufmannsgehilfenprüfung. Nachdem Gertrude 10 Jahre lang ein Einzelkind war, kam - und
das auf ihrem Namenstag - Bruder Stefan zur Welt. Beide waren von Anfang an gut zu
einander und wurden von Mutter und Vater, trotz aller Arbeit, zu vernünftigen Menschen
erzogen. Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich behaupte, daß wir ein harmonisches
Familienleben absolviert haben. Unsere Kinder brauchten auf nichts zu verzichten, wurden
aber auch nicht zu Wohlstandsakrobaten erzogen. Sie besaßen beide schon als Kinder die
Tugend der Zufriedenheit. Beide hatten ihre Spielzeuge, womit sie aber recht gut umgingen.
Wir bemühten uns, den beiden Radfahren, Schwimmen und Schlittschuhlaufen beizubringen.
Auch haben wir an allen Elternsprechtagen oder Versammlungen, welche Schule und Ausbildung
betrafen, teilgenommen. Die Familie, besonders aber unsere Kinder waren stets erste
Priorität.
Gertrude war so ziemlich das erste Enkelkind in
der Familie, sie war darum keineswegs verwöhnt, aber überall gerne gesehen. Sie war
einfach pflegeleicht und fand sich schnell zurecht. Zudem war sie, solange wir in Fürth
wohnten, bei unseren Nachbarn Merzenich beheimatet. Dort waren außer dem Ehepaar
Merzenich noch drei große Töchter im Haus, die mit Gertrude alles ge- und verbotene
anstellten. Als Herr Merzenich plötzlich verstarb, war Gertrude diejenige, welche vier
Frauen über den ersten Schmerz hinweghalf. Für unsere Tochter blieb die Familie Makala,
Merzenich konnte sie noch nicht sagen, lange Zeit ihr zweites Zuhause. Frau Merzenich war
eine sehr belesene, intelligente Frau, bei der auch das schwerste Kreuzworträtsel
aufgelöst wurde. Ihrer Erzählung entsprechend war sie ein Nachkömmling, welcher der
älteren Schwester schon vor der Geburt Sorgen bereitete. Besagte Schwester sollte
nämlich als Taufpatin fungieren, aber ließ ihren Vater diesbezüglich mit einigen
unsanften Worten im Regen stehen. Als sie aber von Nachbarn und Freunden erfahren hatte,
daß man kein Patenangebot abschlägt, wollte sie beim Vater alles in Ordnung bringen und
Patin werden. Der Vater aber sagte zu ihr:Du hast einmal abgesagt und dabei bleibt
es, aber wenn wir noch ein Kind bekommen sollten, bist du die erste
Anwärterin.
Gertrude und auch nachher Stefan sind auch immer
gerne bei Tante Christel (meiner ältesten Schwester) gewesen. Onkel Ludwig hatte schon
früh ein Auto und war im Paddelclub. Zudem hatten die ein Zelt, wo die Kinder immer gerne
drin schliefen. Mein Vater bezeichnete diese Art Urlaubmachen immer als Zigeunerleben. In
meinem Elternhaus in Orken war sonntags immer richtig was los, an Namenstagen oder
sonstigen Feiertagen ging es richtig rund. Die älteste Schwester hatte 2 Kinder, mein
Bruder 2, wir hatten 2 und die jüngste Schwester hatte 1 Kind. Es kam oft vor, daß
außer den Kindern aus der Familie noch Besuch mit Kindern kam und ich mich dann
notgedrungen mit der Rasselbande befaßte. An normalen Sonntagen, wenn nicht mehr Kinder
als Finger an einer Hand vorhanden waren, konnten die
sich frei bewegen. Natürlich zankten die sich auch mal. Trotzdem, mein Vater war erst
zufrieden, wenn er alle Schäflein im Stall hatte. Dann wurde etwas getrunken und heiß
über Politik, Kirche und andere aktuelle Themen diskutiert. Während der Herbst- und
Wintermonate gab es ab und zu auch mal frische Muscheln.
Unvergessen bleibt für mich die Goldhochzeit
meiner Eltern. Unsere Mittel waren zwar stets bemessen, aber nachdem das Haus wieder
aufgebaut und renoviert war, konnten die Eltern sich ein solches Fest erlauben. Vater war
nie arbeitslos gewesen und hatte gut verdient, so daß seine Rente dementsprechend war,
und meine Mutter hatte durch solide Haushaltsführung zu diesem sagen wir Wohlstand
beigetragen. Jedenfalls war die Goldhochzeit ein gelungenes Fest, wo am Vorabend die ganze
Schillerstraße, die Arbeitskollegen mit Werkschor und die Vereinsmitglieder der Vereine
anwesend waren. Am Goldhochzeitstag war zuerst eine Messe und dann war die ganze
Verwandtschaft zur Gaststädte Hausmann in Noithausen eingeladen. Die Eltern hatten auch
Nichten und Neffen beider Elternteile eingeladen, so daß ein nettes und amüsantes
Häuflein zusammenkam. Komisch, mein Vater drehte sonst jeden Pfennig dreimal um, bevor er
ausgegeben wurde, aber in solchen Angelegenheiten war er großzügig. Von den Neffen muß
ich meinen Vetter Peter Moll besonders hervorheben. Wir nannten ihn alle Onkel Peter, weil
er altersmäßig eher zu der Generation meiner Eltern paßte. Ich glaube irgendwann schon
erwähnt zu haben, daß im Elternhaus meines Vaters der Ausdruck meine Kinder, deine
Kinder, unsere Kinder paßte und daraus auch enorme Altersunterschiede resultierten.
Jedenfalls war unser Onkel Peter in unserer Familie immer Stammgast und blieb das auch bis
ins hohe Alter und kurz vor seinem Ableben. Er hatte das Schreinerhandwerk erlernt und
wechselte nachher ins Baufach als Einschaler. Onkel Peter wirkte in Orken und nachher auch
bei uns in Fürth an jedem Um- oder Neubau mit und brachte sein Wissen und Können bei uns
und bei manch armer Familie ein.
Mein Schwiegervater hatte mittlerweile das Land
und die sogenannte Hühnerfarm in Gruissem verscheuert und sich aus dem Erlös in Blens in
der Eifel ein Haus mit bankrott gegangenem Krämerladen gekauft. Er brachte den Laden zwar
schnell wieder in Schwung, aber bei solchen Käufen übersieht man auch einmal schnell die
unbedingt erforderlichen Investitionen an Einrichtung und Reparaturen. Ende vom Lied war
jedenfalls, daß Opa einige Wechsel unterschrieben hatte, die aber nicht alle eingelöst
werden konnten. Eines Tages trudelte bei uns ein Brief ein, in dem er uns seine Lage kund
tat und uns um Hilfe bat. Meine Frau war ihrem Vater sehr böse und wollte zuerst nicht
helfen, weil bei uns noch soviel anstand, was eigentlich vorrangig gewesen wäre. Trotzdem
ging das von mir so sauer verdiente Kampagnegeld zur Eifel, um dort die Verbindlichkeiten
zu begleichen. Als der Laden dort halbwegs ertragreich lief, hatte Opa dort eine Hilfe, der er auch später den
Laden verpachtete. Diese Pächterin war bis ca. 50 Jahre noch ledig, machte dann aber die
Bekanntschaft mit einem Beamten aus Heimbach und so war dieser Traum schnell ausgeträumt.
Unser Opa war dann, erstmalig in seinem Leben, mal für 10 Tage in Urlaub gefahren. Er kam
braun gebrannt zurück und erlitt wenige Tage später einen Herzinfarkt. Als ich zum
Mittagessen erschien und er noch nicht am Tisch saß, ging ich ihm nach und fand ihn
lautstöhnend im Hühnerstall. Ich bestellte Arzt und Krankenwagen, aber leider blieb mein
Bemühen ohne Erfolg. Mein Schwiegervater verstarb am nächsten Tag und ließ uns nach
vielen guten Jahren auch die schwarzen und schweren Zeiten eines Familien-und Menschenlebens durchmachen.
Dies war für unsere Familie und besonders für
die Kinder ein schwerer Schock. Trotzdem mußte auch bei uns das Leben weiter gehen. Im
Moment hatten wir so viel Arbeit, daß uns kaum Zeit zum Begreifen der neuen Situation
hatten. Das Haus in der Eifel stand mittlerweile verwaist und leer und mußte dringend
gründlich renoviert werden. Da sich trotz vieler Mühen kein Käufer fand, verstand meine
Schwiegermutter es, mir dieses Haus aufzuhalsen. Meine Schwäger haben zwar keine Unsummen
bekommen, aber für mich war jede kleine Ausgabe eine harte Nuß. Nun hatte ich
Gelegenheit, jedes Wochenende und während meines Urlaubs mit Handwerkern, Freunden und
teilweise mit Material in die Eifel zu fahren, um dort meine Arbeitskraft und mein Geld zu
investieren. Mit der Zeit wurde das Eifeldorf Blens
zu meiner zweiten Heimat. Da ich auch dort einen Garten bearbeitete, in den Heimatverein
eintrat und auch mit allen Leuten gut zurecht kam, war ich den meisten Blensern schnell
bekannt. Im Laufe der Zeit hatte ich aus dem teilweise zerfallenen Haus einen Baukörper geschaffen, in dem 3 moderne
Duschräume einschließlich Toiletten und mehrere schöne Zimmer vorhanden waren. Es war
immer mein Stolz, meinen Besuchern aus der Kollegenschaft oder Kundschaft dieses Anwesen
und auch meinen Garten vorführen zu können. Meiner Frau wurde nach meiner Pensionierung
die ewige Fahrerei zuviel und ich konnte mich mal wieder nicht durchsetzen, so daß wir
alles für meine Begriffe unter Preis verkauft haben.
Unser Sohn Stefan, ich erwähnte es schon, war
auch ein zufriedener Junge. Wenn ich behaupte, daß Kinder aus kleinen selbständigen
Geschäften arme Kinder im Sinne der Aufwartung sind, meine ich nicht, daß denen etwas
vorenthalten bleibt. Unser Sohn wurde als Kleinkind in einen mit einer Wolldecke
ausgelegten Zinkwaschkessel gesetzt und in eine Ecke gestellt. Mit zwei Jahren hatte er
ein Spielstühlchen und eine Menge Matchboxautos, womit er sich stundenlang die Zeit
vertrieb. Seine Leistungen in der Volksschule waren so gut, daß seine Lehrpersonen uns die Umschulung aufs
Gymnasium vorschlugen. Dort schaffte er auch ohne Unterbrechung und trotz 2
Kurzschuljahren das Abitur. Leider hatte er sehr früh mit Heuschnupfen und anschließend
mit Allergie zu tun. Unser Hausarzt Otto Siepe wollte von chemischer Behandlung nicht viel
wissen, er empfahl die Nordsee und dort fanden Stefan und wir auch jahrzehntelang Erholung
und neue Kräfte für kommende Anstrengungen. Trotzdem ist Stefan im Laufe der Jahre mal
an einen Arzt geraten, der ihm mit Spritzen eine gefährliche Allergie aufhalste. Er
konnte weder eine Spalt- noch Grippetablette einnehmen. Die Spitze in dieser Zeit brachte
ihm einen Allergieschock, der ihn halbtot ins Krankenhaus und dort einige Tage auf der
Intensivstation verbringen ließ.
Er trägt heute noch eine Art Amulett am Halsband, worin die für
ihn unverträglichen Stoffe vermerkt sind. Für eine einfache Zahnbehandlung mußte er
meistens die Uniklinik aufsuchen. Mein Sohn ist mittlerweile als Journalist beim WDR in
Düsseldorf beschäftigt und ich habe den Eindruck, daß ihm sein Job viel Freude macht.
Er hat in Gierath ein schönes Häuschen gebaut und fühlt sich scheinbar mit seiner Frau
dort wohl. Zum Grundstück gehört auch eine wunderbare, mit Sträuchern und Bäumen
bepflanzte Rasenfläche, welche von uns bei Bedarf gerne gpflegt wird.
An unseren Kindern haben wir getan, was in unseren Kräften stand
und können dementsprechend mit dem Eltern Kind - Verhältnis zufrieden sein.
Leider fahre ich nicht immer mit meinem Schwiegersohn auf der gleichen Schiene, aber jeder
muß eben nach eigenem Gutdünken sein Leben gestalten und ich bin mit meinen Methoden und
meiner Art zu leben, sehr zufrieden.
In Fürth fühlte ich mich mittlerweile genau so wohl wie früher in
Orken. Es gab und gibt hier viele nette Leute. Man verspürt erst so richtig Freundschaft,
wenn man auf Mitmenschen angewiesen ist. So erging es mir im November 1991, als ich einen
Herzinfarkt erlitt. In dieser Zeit, ob im Krankenhaus oder nachher in der Reha, erfuhr ich
sehr viel Anteilnahme und Zuneigung. Ob von Seiten meiner Kolleginnen und Kollegen, ob aus
der Landwirtschaft, oder aber besonders die Fürther besuchten mich und waren um mich
besorgt.
Um diese Zeit hatten wir unser erstes Fürther - Fest gefeiert. Die
Idee wurde bei einem Beerdigungskaffee geboren, und zwar war Hürtgens Christel an einer
schweren Krankheit noch relativ jung
verstorben. Wir wurden uns in der Feststellung schnell einig, daß wir immer nur bei
traurigen Anlässen zusammen kämen und
unsere Wehwehchen so gut wie auch andere Begebenheiten besprechen würden. Heinz
Weyermanns war wohl derjenige, der den Begriff Fürther - Fest formulierte. Nun wurde aber auch vom Tag an
gearbeitet und organisiert. Heinz Rütgens stellte uns großzügig seinen Hof zur
Verfügung. Die Firma Rheinbraun wurde angeschrieben und gebeten, uns als Entgelt für
Baggerlärm und Kohlenstaub die Musik an unserem Fest zu finanzieren. Alfred Breiden
fühlte sich verpflichtet wegen der Geräusche seiner Webstühle, die auch sehr oft noch
spät abends liefen, das Bier für dieses Fest zu stiften. An alle bekannten ehemaligen
Fürther wurde eine Einladung geschickt. Unsere Frauen machten erstklassige Salate,
Bierzapfer, Kellner, Griller und Kassierer waren eingeteilt, so daß eigentlich alles
klappen mußte. Da der Wettergott uns zudem noch einen herrlichen Tag bescherte, wurde
dieses Fürther - Fest für uns Veranstalter, aber besonders für die Fürther Senioren
und ehemaligen Einwohner ein großes Erlebnis.
Wir waren uns einig, an unseren Mitbürgern nichts verdienen zu
wollen, und haben praktisch Geld für Geld verkauft und so wurde am gleichen Tag noch
vereinbart, dieses Fest zu wiederholen. Es gab noch einige Wiederholungen, die auch alle
gut über die Bühne gingen und allen Beteiligten jeweils schöne Stunden brachten. Die
schönsten Übrigbleibsel aus dieser Zeit sind aber die monatlichen Zusammenkünfte der
Fürther Frauen, die dann zusammen essen gehen und wir Männer treffen uns dann monatlich
abwechselnd bei einem von uns zu einem kühlen Trunk, belegten Brötchen und teils
heftigen Wortgefechten, die der Sendung Talk im Turm nicht hinten anstehen
müssen. Es passiert auch schon mal, daß wir, bei gut dosierter Promille, ein
Soldatenlied aus unserer Jugendzeit anstimmen, wobei die Panzer in Afrika die Ketten
rasseln lassen.
Die Restbeträge, die aus den einzelnen Fürther Festen
übrigblieben, sind von uns bzw. von den
Leuten, die an und zu den Festen sehr viel Arbeit getan haben, im Jahr 1998 wie folgt
veräußert worden:
Wir wurden per Rheinbraunbus nach Hülchrath zum Jägerhof gebracht
und haben dort einen schönen Abend verlebt. Es blieben uns aber immerhin noch DM 534,19
übrig. Dieser Betrag wurde dann aufgeteilt zwischen den Kindern von Perm, die DM 265,00
erhielten und dem Kinderkrankenhaus Bethlehem, welches den Restbetrag von DM 269,19 bekam.
So haben sich die nachbarlichen Beziehungen in unserem Dorf etwas
vertieft und volle Geburtstage sowie andere Familienfeste werden jetzt in etwas größerer
Runde gefeiert. Wir Männer sind ziemlich alle von der gleichen Fakultät, was aber nicht
parteipolitisch gemeint ist. Wir haben beziehungsweise bearbeiten alle einen Garten und
versuchen, uns mit der jeweiligen Ernte gegenseitig zu übertrumpfen. Hierbei wird auch
Sprach- und Zündstoff für die nächste monatliche Zusammenkunft mit geerntet. Wir haben
alle ein schönes Fahrrad und können so unsere engere und auch etwas entferntere Heimat
neu kennen lernen. In unmittelbarer Nähe unserer Heimat hat die Rheinbraun das sogenannte
Elsbachtal neu entstehen lassen, woran sich die Gustorfer Höhe anschließt. Wenn man
dieses Gebiet durchfährt, hat man schnell 15 Km. auf dem Tachometer. Fahrten an der Erft
entlang, entweder nach Bergheim oder nach Grimlinghausen sind auch keine Seltenheit.
Auch unternehmen wir schon mal Busfahrten wie z.B. zum Eisstadion
nach Grefrath bei Krefeld. Das sind alles herrliche Erlebnisse, die nicht sehr teuer sind,
aber von allen gerne und mit Freude akzeptiert werden. Ebenso fahren wir einmal in den
Muschelmonaten mit der ganzen Gesellschaft nach Gubberath zum Muschelessen und ebenfalls
wenigstens jährlich einmal nach Rath, um dort ein Schlachtfestessen zu genießen. Wie
gesagt, das sind alles Freuden des kleinen Mannes, wo das Gesellige dem Finanziellen
überwiegt. Früher fehlten uns die Mittel, um an Darbietungen gleich welcher Art
teilzunehmen und heute, wo der Pfennig nicht mehr so oft umgedreht wird, bekommt der eine
Einhalt geboten wegen seines Körpergewichtes, der andere verfügt über zu viel
Cholesterin und der Nächste kann wegen Bluthochdruck kein Bier mehr vertragen.
Der Jahrgang 1927 hat auch mehrere Schülertreffen veranstaltet. Das
erste Treffen dieser Art kam im Jahre 1977, als wir größtenteils 50 Jahre alt wurden,
zum Zuge. Erich Loers hatte die ersten Schritte unternommen und damit auch eine Arbeit auf
sich genommen, die mit vielen Dankesworten zwar honoriert wurde, aber solange er lebte auf
seinem Rücken hängen blieb.
Es erging uns genauso wie vielen Jahrgängen vor uns, einige Plätze
blieben leer, weil auch unsere Klasse noch Blutzoll im sinnlosen Krieg hat leisten
müssen. Zwei unserer ehemaligen Klassenkameraden hatten durchaus kein Verständnis für
das, was wir anderen alle schön und schnellstens wiederholungswürdig hielten. Wir haben
beim ersten Klassentreffen sehr viel Freude bekommen, hatten wir uns doch zum Teil über
30 Jahre nicht mehr gesehen. Es war sehr erfreulich festzustellen, daß aus uns normalen
Volksschülern doch alles brauchbare Menschen geworden waren. Dem einen waren die 50 Jahre
etwas mehr als dem anderen anzusehen, aber jeder war noch gut zu erkennen.
Leider
wurde unser Haufen von Klassentreffen zu Klassentreffen, welches wir im
Fünfjahresrhythmus abhielten, immer kleiner.
Zur Zeit kommt der Rest der Klasse jedes Jahr um die Weihnachtszeit irgendwo in
Grevenbroich zusammen. Es werden dann vor wie nach die alten Erlebnisse aufgetischt und
aufgefrischt. Des einen Erinnerungsvermögen ist etwas besser als das des anderen, aber
uns ist das Alter allen anzusehen. Auch haben schon einige von uns die Goldhochzeit
gefeiert oder stehen kurz davor. Bei der Schulentlassung bestand unsere Klasse aus 14
Mädchen und auch 14 Jungen. Zum ersten Klassentreffen erschienen 11 Mädchen und 10
Jungen. Wenn wir bei unseren derzeitigen Zusammenkünften noch 12 bis 13 Leute zusammen
bekommen, sind wir glücklich. Auch unsere Klasse ist von Krankheit und Tod nicht
verschont geblieben. Nun möchte ich auch langsam zum Schluß meiner Erinnerungen kommen,
ich will zwar noch nicht sterben, aber mit 72 Jahren wird man ja auch nicht mehr so viel
erleben, was unbedingt anderen vermittelt werden muß. Mein Leben habe ich gerne gelebt
und obwohl ich nie über Reichtümer verfügt habe, war ich mein Leben lang immer
zufrieden und habe keinen Neid gekannt. Zufriedenheit wünsche ich auch jedem, der
irgendwann einmal meine Erinnerungen liest.