Bei der Arbeit im Verrechnungsbüro kam mir auch wieder meine gelungene Lehrzeit zu gute. Hier war Maschinenrechnen und logisches Denken gefragt. Ich brauch mir nicht selbst auf die Schulter zu klopfen aber darf behaupten, daß ich auch in der neuen Abteilung meine Arbeit zu aller Zufriedenheit und mit Freude erledigt habe. Eine Erinnerung aus dieser Zeit ist folgende: Ein Kollege im Büro hieß Deckenbrok, er war ein erstklassiger Buchhalter, aber keiner von uns wußte, daß er psychisch krank war. Als erstmalig einer von der Toilette kam und festgestellt hatte, daß Deckenbrok dort seine Apfelsinen verzehrte, kamen die ersten Zweifel auf. Seitdem ich in dem neuen Aufgabengebiet tätig war konnte ich mittags zu Hause essen. Mit der Stunde Pause ging das alles etwas knapp auf, aber ich war noch jung und dann wurde eben etwas stärker in die Pedalen getreten. Eines mittags komm ich vom Essen zurück und stellte fest, daß die Rübenfahrzeuge bis zum Amtsgericht standen. Beim Eintritt ins Büro habe ich wohl gesagt:„Heute platzt die Bombe“ und dabei aber erwähnt, daß soviel Fahrzeuge unterwegs sind und unser Feierabend mit einem Fragezeichen versehen wäre. Herr Deckenbrok war zwar etwas unruhig und ging einige Male mehr als üblich nach draußen, aber keiner wußte warum. Abends nach 20.00 Uhr kam dann der Herr Rodrigo und erzählte uns, daß Herr Deckenbrok weinend  beim Direktor Wunderlich wäre und sich bei uns bedroht fühlte. Er glaubte, ich hätte eine Bombe in meiner Aktentasche, die irgendwann explodieren würde. Wir hatten nachher und am folgenden Tag viel Mühe, Herrn Deckenbrok zu überzeugen, daß nirgendwo ein Sprengkörper war. Es wäre uns und auch Herrn Deckenbrok viel erspart geblieben, wenn die Betriebsleitung uns über die Krankheit unseres Kollegen informiert hätte. Im Jahr darauf machte Deckenbrok auch noch die Kampagne mit. Die buchhalterischen Leistungen waren noch immer gut, aber die Krankheit war auch enorm fortgeschritten. Wir hatten z.B. einen neuen Rübenbüroleiter namens Otto Besser bekommen. Dieser hatte irgendwann 2 aufeinander gebuchte Buchungen annulliert und erneuert, aber eine Notiz darüber geschrieben und abzeichnen lassen. Deckenbrok seinerseits war daraufhin während des Jahres, also obwohl er nicht mehr bei der Fabrik war, nach Köln zur Hauptverwaltung gefahren, um den Herrn Besser dort anzuschwärzen. Daraufhin bekam Wevelinghoven Besuch von der damals höchsten Kontrollperson der Firma Pfeifer und Langen, und zwar erschien Dr. Haberecht persönlich und sah sich die angezeigten Fehler an. Bei manuellem Buchen durfte ja weder radiert noch überschrieben werden, man konnte zwar eine Zahl durchstreichen, aber alles mußte leserlich bleiben. Herr Deckenbrok hatte sich natürlich mit dieser Attacke von der Firma für immer verabschiedet.

Otto Besser  war zwar ein ehemaliger Offizier bei der Wehrmacht gewesen, hatte aber einige Seminare besucht und konnte auch Kentnisse vorweisen. Ich behaupte, daß mit ihm die ersten Rationalisierungsmaßnahmen bei der Zuckerfabrik Einzug hielten. Herr Rodrigo war als Direktor nach Ameln versetzt worden und Herr Besser hatte nun Gelegenheit, sich in Wevelinghoven zu beweisen. Er war der erste Vorgesetzte, der seine Mitarbeiter immer und überall mit einbezog und profitierte letztendlich von dieser Maßnahme nur. Zu dieser Zeit bekam Pfeifer und Langen die erste Buchungsmaschine, womit einmal die Materialbuchung des Magazins und zum anderen die gesamte Zuckerverrechnung verbucht wurde. Bis dahin hatte jeder Landwirt ein Wiegebuch mit Blättern, in dem dann die einzelnen Werte  wie Brutto, Tara, Netto, Schmutz %  und Reine Rüben verbucht wurden. Nun bekam der Landwirt einen Buchumschlag, worin die einzelnen Wiegescheine Fuhre für Fuhre mit den gleichen Werten wie früher eingeklebt wurden. Die Wiegescheine waren aus Durchschreibepapier und in doppelter Ausführung, wobei der linke Rand der Durchschrift mit Leim versehen war und dann angefeuchtet und eingeklebt wurde. Auf dieses System wurde dann aufgebaut, sei es zur Zeit der Lochkarte oder Lochstreifen. Selbst zum Schluß meiner Tätigkeit, als wir mit ID-Karte und Hofkarte (Schlüssel)  arbeiteten, war das Wiegescheinsystem natürlich mit allen erdenklichen Daten noch in Mode.

Da die manuelle Zuckerverrechnung nun überflüssig war, wies man mir wieder ein neues Arbeitsgebiet, und zwar die Fuhrwiegehäuser und das Rübenlabor zu. In diesem Bereich arbeitete ich bis zu meiner Pensionierung im Jahr 1992. Nachdem ich ein Jahr mit Erfolg in den Fuhrwiegehäusern gearbeitet hatte, wurde ich nach der Kampagne überall wo einer fehlte oder krank war eingesetzt. Ich habe in der Lohnbuchhaltung so gut wie im Magazin oder im Zuckerversand gearbeitet und habe alle Arbeiten mit Freude erledigt. Nun war auch für mich die Zeit gekommen, wo mein Einsatz belohnt wurde. Ich bekam, nachdem einige Herren in Rente gegangen waren einen sehr großen Kontrahierbezirk. Für die aus meinem Bezirk gelieferten Rüben bekam ich pro dz 0,02 DM  und hatte dadurch bei nicht übergroßem Arbeitseinsatz ein sehr gutes Nebeneinkommen. Der Herr Besser hatte sich mittlerweile gut eingearbeitet und wurde auch bei der Hauptverwaltung, also bei der Hauptgeschäftsführung, akzeptiert und anerkannt. Er hatte ein enormes Auffassungsvermögen, hatte aber auch für seine Mitarbeiter und für jeden kleinen Hilfsarbeiter Verständnis. Sein VW-Käfer und eine rasante Fahrweise brachten ihm den Namen“ der schnelle Otto“ ein. Leider war der schnelle Otto von schlimmen Rückenschmerzen befallen. Neue Hüften gab es damals noch nicht, darum schickte man ihn in Kur. Aber die Kur wurde ihm zum Verhängnis, er lernte dort eine Frau kennen und wollte von seiner Frau nichts mehr wissen. Es kam soweit, daß seine Frau die Wohnung abgeschlossen hatte und er die Tür aufbrach. Daraufhin stellte der Herr von Langen klar, daß der schnelle Otto bei ihm eingebrochen hätte und entließ ihn fristlos.

Da ich mit dem Herrn Besser ein gutes Verhältnis pflegte, war mir diese Regelung nicht nach der Nase. Der neue Leiter des Rübenbüros hieß zwar Peter Zimmermann und war ein guter Klassenkamerad von mir, aber mir wurden nicht die geringsten Vorteile in den Jahren unserer Zusammenarbeit zuteil. Wir haben uns zwar bestens verstanden, aber wenn etwas nicht in oder an der Ordnung war, war ich der Prügelknabe.

Es ist interessant, was man in seinem Arbeitsleben alles an Vorgesetzten gehabt hat. Bei mir fing es mit dem Herrn Rodrigo an, als nächster trat der Herr Besser für einige Jahre in Erscheinung, dann betrat bis zur Rente im Jahr 1992 der Herr Zimmermann die Bühne. Die genannten Herren sowie die Personalleiter Herr Kluge und Herr Vent hatten zu ihrer Zeit alle Prokuravollmacht. An Direktoren habe ich folgende Herren kennengelernt: Herr Erich vom Scheidt, Herr Wunderlich, Herr von Döring, Herr Mosig und den für die Wevelinghovener Belegschaft leider zu früh verstorbenen Dr. Hermann Lührs. Vor dem Herrn Erich vom Scheidt war dessen Vater der Herr Eugen vom Scheidt als Direktor in Wevelinghoven tätig. Den habe ich nur vom Hörensagen kennengelernt, aber er muß wohl immer und überall geachtet und geehrt worden sein. Herr Hoppe sen., der ca 50 Jahre im Rübenbüro arbeitete, erzählte mal, daß Eugen vom Scheidt seinem Direktorkollegen Herrn von Lyliensgold in Dormagen, per Postkarte natürlich, über irgend etwas sein Erstaunen ausgedrückt hatte. Prompt kam zwei Tage später die Antwortkarte aus Dormagen mit der Bemerkung:„Ich bin erstaunt über dein Erstaunen“. Es war immer interessant den Herren August Hoppe, Franz Weyermanns und Johann Köhlings zuzuhören, wenn diese aus ihren ersten Berufsjahren ab und nach der Zeit des ersten Weltkrieges erzählten. Ich werde im Laufe meiner Erinnerungen noch Gelegenheit haben von und über diese drei Herren zu berichten.

Den Herrn Erich vom Scheidt, der wohl in der Aktivität unserem letzten Chef Dr. Lührs am meisten gleichkam, habe ich auch kaum als Fabrikdirektor erlebt. Er hat die Fabrik nach dem Krieg aufgebaut und nahm in dem Moment, wo man beim Zoll die Kompensationsgeschäfte in unserer Fabrik entdeckt hatte, alle Verantwortung auf sich. Er wurde verhaftet und eingesperrt, und da er einer Religionsgemeinschaft angehörte, die eine Inhaftierung ausschloß, nahm Herr vom Scheidt sich zum Entsetzen aller das Leben. Herr vom Scheidt hätte bei einer Gerichtsverhandlung kaum mit nennenswerter Strafe rechnen müssen, er hat sich mit dem Wiederaufbau der teilweise zerstörten Fabrik, besonders aber mit dem Neubau unseres Bürogebäudes, welches heute noch steht, ein bleibendes Denkmal gesetzt.

Der Herr Wunderlich war für mich eigentlich der erste Direktor,  welcher auch die Geschicke der Fabrik hätte leiten und lenken müssen. Er war ein feiner Mensch, der nach den alten Gepflogenheiten in Ostpreußen zwar eine Zuckerfabrik geleitet hatte, aber in Wevelinghoven nicht genug Durchsetzungsvermögen zeigte. Es gab einen Meister Holz, der die Fäden in der Hand hatte, ob es um Personalfragen, um Einkäufe oder um den Einsatz von Fremdfirmen ging, Holz hatte überall seine Finger drin. Ohne sein Wohlwollen war es schwer, selbst talentierte Leute unterzubringen. Herr Holz war zwar ein sehr guter Siedemeister, aber er war so arrogant, daß er sich um Sachen kümmerte, die vom Betriebsleiter oder Direktor hätten erledigt werden müssen.

Da sich meine Einnahmen wie gesagt sehr verbessert hatten, war es für mich selbstverständlich unseren Laden zu erneuern. Mein Schwiegervater war zwar der Meinung, den Fachwerkgiebel umzukrempeln und auf Umbau zu gehen, wogegen ich auf Neubau setzte und mich auch durchgestzt habe. Auch hierbei war mir Pfeifer und Langen wieder enorm hilfreich, ich hatte nämlich vom Meister Holz schon die Zusage ein Transportband zu bekommen, und bekam bei den späteren Bautätigkeiten jeweils einen Bagger für die Ausschachtarbeiten. Da die Familie Merzenich mit ihrem Schwiegersohn einen Wohnungswechsel nach Orken vollzog, konnte ich schon  den Abbruch vorbereiten. Unser ehemaliger Hausschlächter Lorenz Schönen wollte mir unbedingt bei dem Abbruch helfen. Er hatte zwar vor Jahren eine Unterschenkelamputation verkraften müssen, fühlte sich aber wieder sehr fit. Bei allen Bautätigkeiten, die sich auf unserem Grundstück vollzogen haben, habe ich immer die Versicherung der Bauberufsgenossenschaft in Anspruch genommen. Als ich den ersten Bauantrag einreichte, war das alte Haus schon abgebrochen und die Baugenehmigung kam erst, als Keller und Erdgeschoß im Rohbau fertig war. Aber fangen wir mal vorne an. Frau Merzenich lud unten ihre Möbel auf und rief denn nach oben, wo wir die alten Dachziegel entfernten:„ Hans das ist wie im Zirkus, unten spielt die letzte Vorstellung und oben wird schon abgebrochen“. Ja, wir haben richtig abgebrochen, jeder Holznagel wurde zurückgeschlagen und entfernt. Dann wurde Sparren für Sparren und Balken nach Balken, ohne Säge abgebaut. Die einzelnen Verbunde wurden zuerst entfernt und der anfallende Lehm und Heu konnten in Feldwegen und alten Mulden entsorgt werden. Der gesamte Kelleraushub wurde mit Spaten und Schaufel über ein Transportband auf LKW oder landwirtschaftliche Fahrzeuge verladen und in alte Hohlwege gefahren. Die Woche hatte immer viel zu wenig Stunden. Es ging täglich von 6.00 bis 19.00 Uhr auf der Zuckerfabrik und anschließend wurde am Bau gehandlangert oder Gerüste usw. für den nächsten Tag vorbereitet. Gerüste und Verschalung waren kaum zu bekommen. Es wurden oft Provisorien fabriziert, die auch die großzügigste Berufsgenossenschaft nicht sehen durfte. Zum Glück hatte ich in Hans Pick einen Fürsprecher bei seinen Brüdern im Baugeschäft. Ich hatte nämlich einige Male auf Kirmes Hubert Reibel vertreten und dem Baustoffhandel mehrere große Partien ausgefahren. Man war bei Pick scheinbar mit meinen Leistungen zufrieden und kam mir immer großzügig entgegen. Was auch für alle kleinen Selbsthilfebauer (Schwarzbauer) von Nutzen war, war die monatliche Erstellung der Rechnung. Man hatte einen Monat Material bekommen und erhielt erst um den 10. des nächsten Monats die Rechnung. Auch möchte ich noch erwähnen, daß die Familie Pick, obwohl sie das nicht nötig hatte, manchmal in meinem Laden für ihren Haushalt so gut wie auch zu Weihnachten für die Belegschaft große Einkäufe getätigt hat. Hier ist noch anzufügen, daß Picks nicht einfach drauf los kauften, sondern qualitäts- und preisbewußt ihr Geld ausgaben.

Meine, heute würde man sagen flexible Arbeitszeit erlaubte es mir, wenn nicht gerade Kampagne war, gut bezahlte Arbeiten wie z.B. Umzüge und dergleichen mitzumachen. Mein Schwager Ludwig machte bei  der Spedition Clemens manche Fahrt, wo ich als Beifahrer fungierte. Auf den Rückfahrten brachte ich beispielsweise sämtliche Hohlblocksteine aus der Gegend um Neuwied mit. Für diese Rückfrachten brauchte ich dann nur geringe Frachtkosten zu zahlen. Die eigentliche Arbeit fing aber dann erst an.

Bei unserem ersten Neubau war das Fachwerkhaus abgebaut und ein  alter Keller mußte vom Gewölbe befreit werden. Dann wurde der vorhandene Raum mit starken Balken eingeschalt, damit beladene LKW darüber fahren konnten. Wir haben das ganze Baumaterial für den Keller und teilweise fürs Erdgeschoß, ob Steine, Sand oder Kies, in unserem ehemaligen Garten gelagert und dann erst den Keller wie gesagt mit Spaten, Schaufel und Transportband ausgehoben. Beim Abladen der Ziegelsplittsteine für den Keller haben wir immer blutige Finger gehabt, Handschuhe gab es auch zu dieser Zeit noch nicht. An diesen reinen Männerarbeiten war meine Frau immer maßgeblich mitbeteiligt. Obwohl unser Neubau gegenüber der alten Straßenflucht 1,50 m zurück versetzt wurde, war es unmöglich - ich erwähnte die Situation schon - vor der Baustelle bei dem enormen Verkehrsaufkommen mehrere Tage etwas auf Vorrat zu lagern. Es wurde eigentlich nur von der Hand in den Mund gelebt, alles mußte gut durchdacht sein, um termingerecht Rohbau- und Fertigbauabnahme über die Bühne zu bringen. Wir hatten uns vorgenommen, im November, spätestens Dezember 1955 den neuen Laden zu eröffnen und das Erdgeschoß bis dahin fertig zu haben.

Leider Gottes muß ich mal ausschweifen mit meiner Erzählung. Ich habe einige Abende versucht meinen Rhythmus zu finden, aber da wir (Europa) uns seit Mittwoch in einem Krieg befinden, gehen mir Gedanken durch den Kopf, die eine Konzentration auf das Schreiben meiner Erinnerungen kaum zulassen. Es ist mir unbegreiflich, daß zivilisierte Menschen, die schon lange die Todesstrafe abgeschafft und in allen Belangen menschenfreundlich und kultiviert sein wollen, so einfach einen kleinen Staat mit Bomben, also mit Feuer und Schwefel belegen. Ob diese Menschen, die den Befehl für ein solches Inferno geben, sich im Klaren sind, vielleicht einen Weltkrieg vom Zaune zu brechen, oder ob diese Leute schon mal einen Bombenangriff überstanden haben? Meine Gedanken sind bei den Soldaten, bei deren Eltern aber besonders bei den Zivilisten. Man hört von Massaker und Greueltaten und fragt sich, was haben wir und erst recht die Amerikaner in Jugoslawien zu suchen. Den Serben sagt man Mißachtung der Menschenrechte nach und glaubt, mit Mordinstrumenten dort eine Besserung zu erzielen. Vielleicht sind meine Überlegungen und Empfindungen nicht die richtigen, aber Tatsache ist doch, daß die Menschen in Jugoslawien unter Tito miteinander in Frieden gelebt haben. Ebenfalls hörte man doch von Urlaubern die dieses Land besuchten immer nur von netten Menschen, gleich wo das Urlaubsziel war. Dieser Mittwoch, der 24.03.99, war für mich ein trauriger Tag, aber als ich abends die Sendung “mittwochs mit“, diesmal mit Jean Pütz, weil Carola Stern erkrankt war sah, stellte ich fest, daß Jean Pütz auch regelrecht geschockt war. Er erzählte dann noch ein schreckliches Jugenderlebnis, wo in Köln von 60 Menschen, die im Luftschutzraum waren, er und vier andere lebend herausgekommen sind. Derartige Originalsendungen bringen nämlich die Regungen und Gefühle eines Menschen sehr viel deutlicher auf die Mattscheibe wie Aufzeichnungen. Ob die Politiker, die vor nicht langer Zeit all das, was heute unter dem Leitgedanken Europa für gut geheißen wird, noch scharf verurteilten, je ein ruhiges Gewissen haben können ist mir schleierhaft. Ich möchte aber trotzdem mit politisieren aufhören, weil mein stiller aber flammender Protest nicht viel bewirken wird.

Unser neuer Laden, wobei ich unterbrochen wurde, wurde am 5. Dezember 1955 also am Tag vor Nikolaus eröffnet. Der Laden war fix und fertig sowie das hinter dem Laden liegende Zimmer. Dieses Zimmer sollte eigentlich Warenraum werden, wurde aber vorerst als Küche verwendet. Unser Flur diente als Warenlager, dort standen vor allem die Vorräte an Sprudel, Limonade und Bier. Als ich meinem Schwiegervater offerierte eine Heizung einzubauen, weil die obere Etage ja noch im Rohbau stand, meinte Opa:„Wenn du den Ofen in der Küche heizt, bekommst du den Laden so warm, daß dir die Kundschaft laufen geht“. Opa war ungefähr 5 Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen, hatte Verzichten und Entbehren gelernt, aber hier war seine Prophezeiung total daneben. Wir bekamen nämlich einen Winter, der es überflüssig machte,noch über eine Heizung zu diskutieren. Meine Frau und auch meine Schwiegermutter hatten, obwohl der Herdofen in der Küche sehr gut geheizt wurde, alle Finger mit Frostbeulen behaftet. In unserem provisorischen Warenlager, dem Hausflur, sind uns dutzendweise die Limo- und Sprudelwasserflaschen geplatzt. Nun kam die Diskussion auf „Heizkörper im Schlafzimmer oder nicht“. Hierbei lieferte ein Herr Delhofen den richtigen Kommentar, als er meinte: „Die Reichen haben den Armen immer erzählt, daß das Schlafzimmer ohne Heizkörper sein sollte, wobei deren Schlafstuben allerdings gut bestückt waren, man kann einen Heizkörper ja auch abdrehen.“

Zu bemerken wäre noch, daß der Rohbau bis Fertigstellung der ersten Etage keinen Tropfen Regen erlebt hat. Als aber die schwerste Arbeit, ein ca 8 m langer Eisenträger (Painer) 33 cm, mittels Dreibaum verlegt werden mußte, erlebten wir ein Gewitter mit enormen Regengüssen. Die ganzen Arbeiten an unserem Haus sind nach damaligen Vorgaben in guter Qualität von meinen ehemaligen Schulkameraden Alex Holz, Hans Königs, Gustav, Hans Schiffer und dem Senior Herrn Stiller getätigt worden. Ich darf behaupten, vorne und hinten dabei gewesen zu sein und die schwersten Handlangerarbeiten selbst übernommen zu haben. Wenn eine Betondecke gegossen wurde, hatte ich vor 6 Uhr schon 70 Sack Zement abgeladen und aufgestapelt. Hierbei darf ich nicht vergessen, daß ich in Schlägers Hubert und Trippens Hermann zwei gute Helfer hatte. Beim Betonieren einer Decke einschließlich Treppe war natürlich die ganze Familie mit eingespannt. Die beiden Opas versorgten die Betonmaschine mit Wasser und Zement und die Frauen hatten ihre Arbeit mit Essen vorbereiten und Getränke an die Männer zu verabreichen. Hermann Trippen war im ersten Weltkrieg verwundet worden, er hatte ein steifes Bein, ich glaube ich erwähnte schon, daß er weder lesen noch schreiben konnte. Dafür ging ihm die Arbeit gleich welcher Art aber von der Hand wie einem Meister. Er bestach nicht nur durch sein Arbeitstalent, sondern brachte durch seine Erzählungen und Witze die ganze Kolonne in einen freudigen Arbeitseifer. Über Hermann könnte man ein Buch mit mehreren Bänden schreiben. Er erzählte jedem der es hören wollte, daß er anstelle die Schule zu besuchen den Hof von Jüdde Luwi (Ludwig Frank) ansteuerte, und dann mittags trotzdem mit den anderen Kindern nach Hause kam. In seiner Jugendzeit bespannte er manchmal den Jagdwagen, brachte einige seiner Freunde, natürlich alle in teils geliehenen Anzügen zum Dycker Weinhaus, kassierte  von den Freunden leihweise aber für alle gut sichtbar dicke Trinkgelder und wartete, bis das  Fahrzeug mit den angeblich gut betuchten Herren wieder in Richtung Elsen wollte. Hermann war immer eine Seltenheit. Wie gesagt im ersten Weltkrieg schwer verwundet,  fand er seine Heimat wieder, obwohl er nicht lesen und schreiben konnte. Er blieb trotz seiner Behinderung in der Landwirtschaft tätig. Später wechselte er in die Industrie. Bei der Firma Maschinenfabrik (Buckau) wäre ohne Hermanns Kehr- und Putzkunst nichts gelaufen. Er war bei der Direktion sowie bei jedem Arbeiter bekannt und beliebt.

Nach den Wirren des zweiten Weltkrieges heiratete er seine Eva, die als Flüchtling aus Ostpreußen kam und gut und gerne Hermanns Tochter sein konnte. Bevor die beiden aber zum Standesamt gingen, mußte Futze Nis (Fräulein Conrads) gut zureden und Eva ihrem Hermann beibringen, seinen Namen zu schreiben. Als es aber darum ging, die Unterschrift unter das Heiratsdokument zu leisten, stellte sich laut Geburtsurkunde heraus, daß Hermann-Josef der richtige Vorname war, aber Josef war ja nicht geübt. Der Standesbeamte, der den lieben Hermann auch kannte, konnte seinen Trumpf aber nicht ausspielen, denn Hermann war mit der Situation zuerst vertraut und sagte:„Eva, ich habe die Brille vergessen, du mußt mir die Hand führen“. Einige Jahre später hatte Hermann von den Tabletten seiner Frau einige eingenommen, stieg in Fürth noch in den Bus und mußte dann bei Buckau schlafend ins Pförtnerhaus getragen werden.

Als unser Haus fertig war, bekam Hermann selbstverständlich bei uns eine Wohnung.

Hier mußte ich oft friedenstiftend eingreifen, denn Eva war nervlich sehr strapaziert und Hermann, mittlerweile ein alter Mann, hatte dann nicht viel zu lachen. Er ist uns für alles immer dankbar gewesen und wir versuchen, unseren Dank ihm gegenüber in regelmäßiger Grabpflege auszudrücken. Hermann hinterließ seiner jungen Frau eine gute Rente, Eva machte noch den Führerschein und fuhr einen schönen Mercedes. Ansonsten war ich heilfroh, als sie damals eine andere Wohnung nahm, sie half meiner Frau zwar beim Saubermachen, aber wir mußten uns viel von ihr bieten lassen. Durch ihre nervöse und hektische Gangart bekam sie mit allen Leuten Krach und glaubte, das bei uns breittreten und uns in diese Streitigkeiten mit einbeziehen zu müssen

Unser Haus wurde ab 1955 in drei Bauabschnitten fertiggestellt. Zuerst der Laden, dann der Anbau und zuletzt wurde die Nr. 14 errichtet. Alles wurde in Eigenhilfe erbaut und den Vorschriften entsprechend mit Bauanträgen und Erlaubnis, Rohbau und Fertigabnahmen sowie besonders dem Geldbeutel entsprechend fertiggestellt. Meine Schwiegereltern bewohnten den Anbau, Familie Trippen hatten die Erdgeschoßwohnung im Haus Nr. 14  und den ersten Stock bewohnte die Familie Klasen. Nachher haben wir den Speicher noch ausgebaut, wo die Familie Peter Krüppel dann einzog. Im allgemeinen sind wir mit sämtlichen Mietern gut zurechtgekommen, obwohl es Steine zum Anstoßen genug gegeben hat. Man sollte wenn möglich jeden Streit vermeiden solange es eben geht, denn es gibt nichts schlimmeres, als an Mithausbewohnern oder auch Nachbarn vorbeischauen zu müssen oder wollen.

Der Herr Klasen beispielsweise war Meister im Installateurhandwerk und beim Gas- und Wasserwerk beschäftigt. Er war froh eine Wohnung zu bekommen und mir kam seine Hilfe beim Verlegen der Wasserleitungs- und Abflußrohre sehr gelegen. Seine Frau war eine attraktive Blondine, der man, wenn man sie nicht kannte, den Titel einer Modepuppe verleihen würde. Robertchen machte die Familie komplett, er war der Mittelpunkt der Familie, zwar erst zwei Jahre alt, aber sehr lebhaft und intelligent. Obwohl unsere Balkongitter die vorschriftsmäßigen Abmessungen haben, überlistete Robert als Zweijähriger alle Vorschriften und stand urplötzlich auf dem Dach unseres Anbaus. Robert hatte auch schon früh Malerqualitäten, er hatte nämlich die weißen Fugen des Badezimmers mit echtem Blaustift übermalt. Als Familie. Klasen nach einigen Jahren auszog, war noch nicht der geringste Versuch unternommen worden, den Blaustift zu entfernen. Auch war es bei Klasen üblich, den Ruß und die Asche in Herd und Ofenrohr als Umzugsgut zu betrachten und von einer Wohnung in die andere mitzunehmen. Wir haben mit Klasen und auch mit anderen Mietern kaum mal einen Wortwechsel gehabt, man macht in solchen Fällen besser eine Faust in die Tasche und die Fugen selbst sauber, als ewig Unfrieden und Krach im Haus zu haben.

Jetzt aber wieder zurück zum ersten Neubau. Der Laden war wie gesagt fertig eingerichtet und lief auch recht gut. Die Einrichtung machte gegenüber dem alten Laden einen freundlichen Eindruck und das große Schaufenster, schön dekoriert, lud die Kundschaft zum Einkauf einfach ein. Das Bauen ging unbehindert, so wie Geld vorhanden war weiter und über die wirklich notwendige Heizung wurde nicht mehr diskutiert.

Leider lag unser Geschäft an einem toten Ende, wo auch so schnell keine Baugebiete erschlossen werden, mit anderen Worten: Wir mußten mit und in allen Warengattungen präsent sein, konnten aber nie mit großem Zulauf oder neuen Kunden rechnen. Unsere Kundschaft kam aus Fürth, Fürther-Berg und Elsen und war Stammkundschaft. Als die B 1 und 59 noch durch unser Dorf verlief, hatten wir auch LKW-Fahrer und Vertreter, die regelmäßig unseren Laden aufsuchten. Als nun die Autobahn 44 und die neue Schnellstraße in Betrieb waren und von den oben genannten kam ab und zu, trotz Umweg, einer in den Laden, freute man sich ganz besonders.

Der neue Laden, so schön er war, brachte auch manche negativen Aspekte mit sich. Das Schaufenster mußte immer schön dekoriert werden, die Einrichtungsgegenstände wie Waagen, Kühlmöbel und Aufschneidemaschinen mußten ständig den neusten Vorschriften entsprechend sein. Ich hatte einen Freitagabend, nachdem meine Frau den Laden geputzt hatte, das Schaufenster neu dekoriert. Als meine Frau mein Wunderwerk betrachtete, sah ich an ihrem Gesichtsausdruck schon, daß dies nicht nach ihrem Geschmack war. Trotzdem bestand ich auf meine Dekoration und siehe da, am nächsten Morgen wurden mehrere Lobeshymnen auf das schön dekorierte Schaufenster seitens der Kundschaft laut.

Ebenso stieß ich zuerst auf Granit, als ich unsere Registrierkasse gegen eine Addiermaschine eintauschen wollte. Ich wollte lediglich erreichen, daß meine engste Verwandtschaft nicht ganz so viel und immer wieder kontrollierend rechnen mußte. Auch lag es mir im Magen, daß zu deutsch jeder dumme Junge uns Verkäufer, vor allem aber meine Schwiegermutter einige Male hintereinander in die gleiche Ecke schickte, wo der jeweilige Artikel im Regal untergebracht war. Das Rationalisieren und Konzentrieren, wie es zu der Zeit überall in den großen Firmen anlief, ließ mich  manche Nacht nicht schlafen. Als mein Entschluß nun feststand und ich meinen Leuten kundtat, daß ich den Laden umkrempeln wollte, und die Artikel, die jeder zweite Kunde kaufte, in greifbare (Armweite) Nähe einsortieren wollte, gab es zuerst auch Widerstand. Sortimentmäßig paßte da zwar nicht alles wie vorher; aber die Wege innerhalb des Ladens wurden kürzer.

Es war wohl in den Jahren um 1960, wo sich alles revolutionierend veränderte. Wir hatten bis dahin fast jeden Tag den Vertreter einer anderen Firma und dementsprechend auch täglich Warenanlieferungen. Fachliteratur lehrte und zeigte uns, daß in Amerika die Geschäfte noch konzentrierter geführt wurden. Auch wir konzentrierten uns auf einen Lieferanten und zwar auf die SPAR. Wir wurden montags von deren Vertreter und zwar immer um die gleiche Zeit besucht, und mittwochs bekamen wir die Ware angeliefert, so daß für derartige Belange nur noch die Hälfte der Zeit beansprucht wurde. Der Vertreterbesuch wurde oder konnte durch Ausfüllen des Ordersatzes verkürzt oder konnte auch ganz entfallen.

Unser neuer Laden war noch keine fünf Jahre alt, als die Selbstbedienung überall Einzug hielt. Wir kamen einfach an dieser neuesten Entwicklung nicht vorbei. Zu dieser Zeit gab es zwar noch keinen Allkauf oder Aldi, aber wenn wir damals unsere Bude geschlossen hätten, hätten wir viel Geld gespart. Nun wurde aber wieder mit persönlichem Einsatz und Kapitalaufwand Haus und Laden umgebaut und eine Verkaufsfläche von 75 qm geschaffen. Die Ladeneinrichtung war nur zu geringen Teilen noch verwendbar und in der Zeit des Umbauens mußte weiter verkauft werden. Man denkt heute daran zurück und fragt sich, wie man diese Anstrengungen überhaupt verkraften konnte. Ich behaupte, daß eine Arbeitszeit von täglich 14 Stunden bei uns nichts Außergewöhnliches war. Wenn ich zu dieser Zeit die Zuckerfabrik nicht als zweites aber stabiles Standbein gehabt hätte, wären solche Aktionen nicht möglich gewesen. Für mich war es immer schlimm, wenn die Einkommensteuererklärung von unserem Steuerberater erstellt wurde. Wenn es dann hieß: Einkommen aus nicht selbständiger Arbeit und das schon einmal versteuerte Geld wurde zu den Einkünften aus unserem Laden addiert und noch einmal versteuert.

Festhalten möchte ich noch, daß meine Frau und ich von den Genüssen des Lebens kaum etwas abbekommen haben. Wir kannten weder Konzertveranstaltungen noch Urlaubsreisen oder sonstiges Vergnügen. Da wir unsere Schulden übersichtlich halten wollten, gab es zwar genug zu Essen und Trinken, auch war immer für ein gemütlich warmes Haus gesorgt, aber ein Auto z.B. kam für mich erst zur Zeit der Kubakrise in Frage.

Der kalte Krieg drohte damals zu einem glühend-heißen zu werden, Amerikaner und Russen standen sich, bis zu den Zähnen mit Atombomben bewaffnet gegenüber und die Welt war in Angst und Schrecken versetzt. Gott sei dank wurde dieses Unheil in letzter Minute abgewendet. Auf Grund dieser Situation entschloß ich mich, mein Schuldenkonto um ein par tausend Mark anwachsen zu lassen. Mein Nachbar Hans Winzen verkaufte seinen Käfer. Dieser war erstklassig gepflegt und hatte noch nicht einmal 60.000 km gelaufen. Ja, Hans Winzen war Postbeamter und ließ seinen Wagen bei Regenwetter  in der Garage und fuhr dann mit dem Fahrrad. Mein Vater lieh mir für 6 Monate 2.500 DM  und ich wurde stolzer Autobesitzer. Diesen Wagen kaufte ich im Jahr 1963, und als ich gut 10 Jahre später in Nordspanien meinen ersten Urlaub verbrachte, hingen die Nummernschilder meines Wagens dort in einer urigen Kneipe an der Wand. Ich hatte das Auto nämlich wohlbehalten an einen der ersten spanischen Gastarbeiter verkauft.

In den Jahren von 1960 bis 1970 nahm unser Land einen gewaltigen Aufschwung. Ludwig Erhard hatte als Wirtschaftsminister ganz erstklassige Erfolge zu verzeichnen. Ob Bauwirtschaft, Industrie oder Handel, alles und überall sah man die Früchte der  Arbeit reifen. Die deutschen Arbeiter und Angestellten verdienten mittlerweile sehr gut, viele bauten sich ein Häuschen, wobei der Staat aber auch einige große Firmengruppen ihre Leute finanziell unterstützten. Es gab kaum noch eine Familie wo nicht wenigstens ein Auto in der Garage stand. Die Straßen konnten den Autoverkehr kaum noch bewältigen. Folglich wurden neue Straßen und Autobahnen gebaut, so daß eine Konjunktur die andere antrieb. In dieser Zeit prägte man auch den Slogan:„Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind.“Dieser Ausdruck hat sich ja nachweislich bis heute bewahrheitet, der Treibstoff, die Versicherung und auch die Steuer können noch so teuer werden, das Auto gehört überall zum Inventar.

Natürlich waren es nicht nur Autos und die Autoindustrie, die uns zum Wirtschaftswunderland werden ließen. Der soziale Aufschwung in unserem Land ist von jedem kleinen Arbeiter sowie von unseren Ingenieuren und Technikern hart erarbeitet worden. Auch die deutsche Landwirtschaft hat in dieser Zeit maßgeblich die Wirtschaft mit geprägt, in den ersten Nachkriegsjahren haben die Bauern uns mit den primitivsten Maschinen und Geräten unser täglich Brot erarbeitet. Später erwuchs ein enormer Wirtschaftszweig, welcher die Landwirte mit modernsten Traktoren und Maschinen ausrüstete. Man höre und staune: die Bauern wurden in ein soziales Netz mit Kranken- und Rentenversicherung eingereiht und manches Bäuerlein fuhr künftig so oft wie möglich in Kur. Unser Volk hatte tatsächlich die schrecklichen Kriegsjahre ignoriert und verhalf unserem Land wieder zu einem Ansehen in der Welt, wie es besser nicht sein konnte.

Immer wieder hörte man, daß unsere so hart erarbeiteten Errungenschaften alle aus Amerika stammten und dort schon seit eh und je die Menschheit begleiten. Nun kamen aber auch und zwar sehr schnell einige Negativposten wie Drogen, Korruption, Sexualdelikte und viel Unangenehmes und Verwerfliches über den großen Teich.

Man kann leider nicht nur das Gute übernehmen und alles andere abwenden. Glücklicherweise haben wir uns über 50 Jahre aus jedem Krieg und anderen Auseinandersetzungen fernhalten können. Die Kirchen, die den zweiten Weltkrieg halbwegs akzeptiert haben, sind während der Zeit des kalten Krieges und bei anderen fragwürdigen Machenschaften immer ruhig geblieben, obwohl die vorhandene Substanz doch langsam weniger wird. Bei der Taufe fängt es schon an. Früher, als die Kinder wirklich wie Sand am Meer das Licht der Welt erblickten, mußte das Kind sofort getauft werden, es durften höchstens fünf bis sechs Tage verstreichen. Heute lassen die Priester oft fünf bis sechs Kinder zusammen kommen, bevor das Sakrament der Taufe erteilt wird. Ob die Frauen nach der Geburt noch ausgesegnet werden, was ich übrigens immer für Hohn hielt, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Fest der Erstkommunion ist auch zu einem zivilen Wohlstandsbekenntnis geworden. Die kirchlichen Feiertage werden zwar der Bezahlung wegen gerne hingenommen, aber der tiefere Sinn gilt nicht mehr. Christi Himmelfahrt hat man zum Vatertag erkoren und an Fronleichnam ziehen auch noch Prozessionen, aber die Beteiligung wird von Jahr zu Jahr spärlicher. Unser derzeitiger Oberpfarrer betreut zur Zeit drei Dörfer mit jeweils schönen Kirchen, wogegen unsere Pfarrei alleine in früheren Jahren immer noch einen Kaplan hatte.

Die beiden großen Konfessionen haben es nicht verstanden, die Jugend bei der Stange zu halten. Da haben scheinbar auch ein Konzil oder andere tiefgreifende Reformen nichts retten können. Junge Menschen sind ja bestens informiert und sehen wie und was selbst Präsidenten und Staatsoberhäupter oder sogenannte Stars ihnen vorleben. Während meines Berufslebens habe ich in der Landwirtschaft viele tiefgläubige Familien kennengelernt, wo auch mit der Jugend alles stimmte. Dort ist man heute überall sehr traurig, weil ihre Kinder die Kirche nur noch als Dorfmittelpunkt kennen.

Meine Einstellung mag zu konservativ erscheinen, aber wenn ich diesen englischen Blödsinn in Zeitungen, Magazinen und selbst in Telefonrechnungen sehe und lese, kommt mir die Galle hoch. Die wunderbaren Worte wie Mutter, Vater, Kinder, Fern- und Auslandsgespräche werden in einer Art ruiniert und verstümmelt, die man sich nur bei uns angeblich hochintelligenten Deutschen erlauben kann. Man mag mich diesbezüglich be- oder verurteilen wie man will, unsere Sprache ist zwar überaus schwer zu erlernen, aber dafür ausdrucksvoll und besonders im deutschen Lied durch nichts zu ersetzen.

Es gibt viele Neureiche, die glauben, durch eine mit Fremdwörtern durchsetzte Redensart ihre angeborene Dummheit und andere, nicht gerade positive Eigenschaften übertünchen zu können. Wenn die Welt in 100 Jahren noch besteht,

wird wohl der fleißige und ehrliche auch dann noch seinen Weg machen.

Nun möchte ich mich aber mal wieder angenehmeren Erinnerungen widmen. Bei der Zuckerfabrik wurde ich von Jahr zu Jahr mehr eingesetzt. Außer der Betreuung der  Landwirtschaft im Außendienst holte man mich überall dort hin, wo gerade einer krank oder in Urlaub war. Ich bekam überall Einblick, ob Magazin, Zuckerlager, Zuckerversand, Lohnbüro und vor allem Rübenbüro, was sich im Laufe meines Berufslebens positiv auswirkte. Von den 12 Monaten im Jahr war ich wenigstens 10 für oder bei Pfeifer und Langen tätig und es ließ sich kaum übersehen, daß man mich dort gerne als Angestellter ganz einstellen würde.

Der damalige Direktor von Döring war Vorsitzender des Modellfliegervereins. Er kam sonntags mit seinem kleinen Sohn zum Modellflugplatz, wo wir uns dann begegneten. Dabei meinte er ganz unverblümt:“Ich habe mir eben ihren Laden mal angesehen, Sie haben dort viel Geld investiert, aber die Zeit der kleinen Geschäfte ist vorbei, fangen Sie ganz bei uns an und machen Sie den Laden zu“. Das waren harte Worte, aber im nachhinein muß ich Herrn von Döring uneingeschränkt Recht geben. Am 15.09.1966 begann für mich die Kampagne und gleichzeitig die feste Anstellung. Unseren Laden aber haben wir erst 10 Jahre später ganz geschlossen. Die Einrichtung war ganz neu und die Kundschaft war uns ans Herz gewachsen und umgekehrt fühlten wir uns den Kunden gegenüber verpflichtet. Die Gesellschaft war damals noch nicht ganz so herzlos wie heute. Wir haben unserem Gefühl entsprechend gehandelt und glauben immer noch, daß es so richtig war. Außerdem hatte ich mittlerweile mit Frau Peil, die zu dieser Zeit bei der Grevenbroicher Molkerei arbeitete, Verbindung aufgenommen, die dann unser Geschäft für einige Jahre pachtete. Hier muß ich auch wieder betonen, daß bis heute noch eine freundschaftliche Verbindung zwischen unseren Familien besteht. Wir haben uns nie gegenseitig über den Tisch ziehen wollen, sondern uns gegenseitig geholfen und unterstützt. Als Peils ihr Haus in Frimmersdorf bauten, war meine Hilfe von vornherein eingeplant. Arno war einmal mit seinen Arbeitskollegen zu einem fragwürdigen Wochenendausflug nach Mönchengladbach gefahren. Als er am nächsten Morgen gegen 6.30 Uhr noch auf der Verlustliste stand, wurden wir zuerst angerufen und um Rat  und Hilfe gebeten. Umgekehrt gäbe es genug Beispiele zu beweisen, daß es sich immer um ehrliche Freundschaft gehandelt hatte.

Bei der Zuckerfabrik verlief die Kampagne für mich wie gewohnt, die Arbeiten bei der Rübenabnahme waren für mich wie geschaffen. Nach Kampagneschluß verlagerte sich mein Arbeitsgebiet ins Rübenbüro. Dort waren die Herren August Hoppe, Franz Weyermanns und Johann Köhlings die Männer, die alle anfallende Arbeit bewältigten. Es darf nicht vergessen werden, daß zu dieser Zeit alles manuell, also ob rechnerisch oder schriftlich, alles wurde mit Federhalter und Tinte zu Papier gebracht. August Hoppe war der sogenannte Bürovorsteher. Er schrieb runde 1000 Abrechnungen und das dreimal im Jahr, wobei ihm als Hilfsmittel eine mechanische Rechenmaschine (Handantrieb wie eine Orgel) als Hilfsmittel zur Verfügung stand. Herr Hoppe und seine Mitstreiter waren Kaufleute alten Stils. Ihre Geburtsdaten waren im 18. Jahrhundert beheimatet. Die Arbeitszeit während der Kampagne betrug von Montag bis Samstag 12 Stunden und sonntags von 7 bis 12. Wenn Mitteilungen an die Landwirte verschickt werden mußten, verlängerte sich die Arbeitszeit dementsprechend. August Hoppe hatte als Lehrling bei Pfeifer und Langen in Elsen angefangen und war, als das Elsener Werk geschlossen wurde, nach Wevelinghoven übergewechselt. Er war ein überaus fleißiger Mann, der bei der Arbeit höchst selten eine Pause einlegte. Von Neuerungen gleich welcher Art wollte er nicht viel wissen. Wenn er morgens zum Dienst erschien, hatte er seiner Frau oft schon eine oder auch zwei Maschinen Wäsche geschlagen. Obwohl bei ihm nichts am Geld scheiterte, kam eine elektrische Waschmaschine oder andere elektrische Geräte erst ins Haus, wenn eine 100 % Garantie gegeben war, daß kein Elektrisieren oder andere Unfallgefahren vorhanden waren. Er und seine Frau hatten große Angst vor allem, was mit Strom angetrieben wurde. Sein Sohn Adolf war auch bei Pfeifer und Langen und machte dort die Lohn- und Personalabteilung. Dieser war modern und fortschrittlich in jeder Beziehung. Adolf hatte zuerst ein Fahrrad mit Hilfsmotor, sattelte aber schnell zum Auto um. Vater Hoppe war ein Leben lang per Fahrrad zur Fabrik gekommen und mußte dann Not oder Übel in den Wagen seines Sohnes umsteigen. Das war zwar gemütlicher, aber ihm war dieses Gemütliche auch schnell an seiner Körperfülle anzusehen. Im gesamten Rübenbürobereich gab es nichts, was August Hoppe nicht hätte regulieren können. In den letzten Jahren seines Berufslebens war er auf einem Ohr etwas schwerhörig, wenn man dann mit ihm sprechen wollte, hieß es immer „Jung komm hier von dieser Seite, söns verston ech nix“. Leider mußte er ganz zum Schluß, also kurz vor seiner Pensionierung, noch die Anfänge des Lochkartensystems mitmachen. Auch dabei gab es große Schwierigkeiten, war es doch die erste Generation der jetzigen Datenverarbeitungstechnik. Wenn unser damaliger Cheffahrer Josef Korbmacher dann von der Hauptverwaltung zurückkam und die sogenannten Daten stimmten wieder mal nicht, konnte man Herrn Hoppe und den anderen älteren Kaufleuten eine gewisse Genugtuung anmerken.

Franz Weyermans war Mengenbuchhalter im Rübenbüro. Er war einige Jahre bei der Hauptverwaltung in Köln gewesen. Da seine Frau aber sehr krank war, hatte man ihn nach Wevelinghoven versetzt. Von hier hatte er doch bessere Voraussetzungen, seiner kranken Frau hilfreich beizustehen. Herr Weyermanns war eigentlich ein lebensfroher Mensch aber konnte während der Jahre, wo seine Frau krank war, nie an einer Veranstaltung oder Feier teilnehmen. Er wurde damals schon ein Vorruheständler, man hatte ihn nämlich auf Grund der geschilderten Situation schon mit 63 Jahren pensioniert. Franz Weyermanns hat schwere Jahre durchgemacht, wurde aber dann doch etwas entschädigt, indem er Jahre danach eine nette Frau heiratete und er selbst bei guter Gesundheit weit über 90 Jahre alt wurde.

Dann war da noch Johann Köhlings, eine Seele von Mensch. Er hatte erst nach dem Krieg bei der Zuckerfabrik angefangen und hatte früher beim Arbeitsamt gearbeitet. Man erzählte, daß Johann wegen seiner Parteizugehörigkeit nicht oder noch nicht wieder bei dieser Behörde anfangen konnte. Es war im Hitlerdeutschland ja so, daß Beamte oder Angestellte in Staatsdiensten logischerweise Parteigenossen waren. Johann Köhlings jedenfalls war ein ehemaliger Staatsangestellter mit einer außergewöhnlich schönen, sauberen Schrift. Das Rechnen war nicht so sein Fall, weil er eben immer seine Schrift in den Vordergrund bringen mußte. Dies wurde bei der Zuckerfabrik erkannt und anerkannt und alles, was an renommierte Adressen ging, war von Johann geschrieben. Mit ihm hatte ich ein besonderes Verhältnis, ich sagte Vater zu ihm und er sagte Jong. Ohne weiteres hätte er mich, wie er sagte, auch als Schwiegersohn akzeptiert. Außer seiner Frau bestand seine Familie noch aus drei verheirateten Töchtern. Johann Köhlings war ein Familienvater, der für alles sorgte, er hatte bei Pfeifer und Langen viele Freunde, ob Schreiner, Schlosser oder Elektriker, wenn Johann eine Kleinigkeit nötig hatte, wurde er bedient. Einmal mußte sein Küchentisch mit neuem Linoleum bespannt werden, er hatte dafür von unserem Schreiner kleine Leisten nötig, die den Tisch dann wieder komplett machen sollten. Unser Meister Holz war in der Schreinerei und fragte nach dem Besteller der Tischleisten. Dann leimte er diese zusammen, beschriftete sie mit dem Wortlauf, gestohlen bei der Zuckerfabrik Wevelinghoven kurz vor der Osterbeichte 1963, verpackte sie schön und sorgte, daß Johann die Holzleisten gut ans Fahrrad gebunden bekam. Die Reaktion in der Familie war, obwohl die Leisten neu und weder geleimt noch beschriftet zur Verfügung standen, nicht sehr positiv. Johann Köhlings machte jedes Spielchen mit, er veräppelte auch andere Kollegen und mußte darum ab und zu auch mal einstecken.

Leider wurde er eines Tages herzkrank. Er hatte ohne es zu wissen einen Herzinfarkt bekommen. August Hoppe schickte ihn, weil er eine kreideweiße Gesichtsfarbe hatte, zum Arzt und dieser gleich ins Krankenhaus. Zum Glück erholte er sich nach einigen Wochen wieder. Unsere Firma war auch in dieser Angelegenheit sehr großzügig, Johann brauchte keinen Kampagnedienst mehr zu machen, hatte sein eigenes Büro im ehemaligen Knechtestübchen und konnte die Arbeitszeit nach seinem Gutdünken einteilen. Während der Kampagne löste er uns schon mal zum Essen oder wenn einer zur Toilette mußte, ab. Bei Toilette muß ich an ein tolles Erlebnis mit ihm denken. Ich mußte eigentlich unbedingt die Toilette aufsuchen. Als ich ihn um Ablösung bat, meinte Vater:„ Jong ech möt ever och unbedingt“ – ich darauf dann bitte mach voran und beeile dich bitte. Kurz darauf kam er ins Wiegehaus und scheuchte mich raus, er konnte angeblich noch aushalten. Im Verwaltungsgebäude auf der ersten Etage waren zwei nebeneinanderliegende Toiletten, man kam die Treppe hoch und lief gegen den Toilettenraum. Ich nahm auf der Toilette, die rechts lag, Platz, hatte kaum mit meinem Geschäft begonnen da hörte ich, wie Vater keuchend den Raum betrat, sich niederließ, aber nicht die Türe abschloß. Jong ech kunt net mi waade, e wor rief, mach dat du eronger kütz. Daraufhin machte ich etwas schneller wie gewohnt, machte zuerst die Tür zur Treppe und dann die von Vaters Klo auf, und stellte mich ans Waschbecken und wusch mir gemütlich die Hände. Das Bild was sich mir bot war einmalig, er saß auf dem Topf, hatte den Hut mehr im Gesicht als auf seinem Kopf und bedachte mich mit einer Kanonade Schimpfworte, die eigentlich zu ihm gar nicht paßten. Die Tür, die nach außen bzw. zur Treppe zeigte, habe ich dann geschlossen und ging ins Wiegehaus. Kurze Zeit später kam Johann Köhlings, steckte seinen Kopf durch die Tür und meinte:„De kunst du für 21/2 kg net koofe“.

Wir haben immer sehr viel Spaß untereinander gehabt. Der eine veräppelte den anderen, aber letztendlich waren wir doch eine zusammengehörende Einheit, wo jeder für jeden da war. Mittlerweile war der Herr Grandke noch zu uns in den Rübenbürokader gestoßen. Er sollte den Herrn August Hoppe mal als Bürovorsteher vertreten. Ich war zwar nicht zu dumm für diesen Posten, aber mein Sitzfleisch war noch nicht genug trainiert. Johann Köhlings behauptete immer, ich hätte sehr oft das Laufhöschen an. Außerdem war ich dazu auserkoren, zwischen Fabrik und Landwirten die richtige Verbindung herzustellen. Bis dahin machte das unser Herr Kaulen mit großem Talent. Leider war Karl Kaulen aber sehr krank und konnte dieser Aufgabe kaum noch nachkommen. Das Rübenbüro war zu dieser Zeit mit den Senioren August Hoppe und Johann Köhlings, die beide dem Ruhestand entgegen gingen, Hans Grandke und mir besetzt. Köhlings, Grandke und ich fuhren täglich per Fahrrad zur Arbeit und August Hoppe wurde von seinem Sohn Adolf per Auto chauffiert. Einmal, kurz nach der Kampagne, begann es gegen 15.00 Uhr an zu schneien. Bis zu unserem Feierabend 16.30 Uhr hatte sich schon eine enorme Schneehöhe angesammelt. Grandke und ich beschlossen, mit Johann Köhlings über Noithausen zu fahren, um ihn wohlbehalten nach Hause zu bekommen. Das gelang uns auch und Familie Köhlings war froh, ihren Haushaltsvorstand wohlbehalten zurückzuhaben.

Der nächste Morgen gestaltete sich aber etwas schwieriger. Vater hatte seine Arbeitszeit so eingerichtet, daß er gegen 8.45 Uhr meist im Büro war. Es wurde 9.30 Uhr und Vater Köhlings fehlte immer noch. Dann meinte Herr Hoppe, ich sei der Jüngste und müßte ihn in Noithausen abholen. In der Nacht hatte es noch einige Zentimeter dazu geschneit, und als wir per Telefon erfuhren, daß Johann schon ½ Stunde unterwegs sei, war ich sehr unruhig und beeilte mich, den gewohnten Weg durch den Bend in Richtung Noithausen zu kommen. Es dauerte gar nicht lange, als ich in der Ferne einen dicken dunklen Fleck in der schönen Winterpracht entdeckte. Man sagt ja immer - wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht aufzukommen.  Vater war vom Fahrrad gekommen, lag auf dem Bauch, sein Hut und seine Brille waren ihm abgefallen und er sprattelte wie ein Trockenschwimmer im Schnee. Als ich mich nach seinem Befinden erkundigte, konnte ich, obwohl die Situation ernst war, mein Lachen nicht verbergen. Er daraufhin: Jong, wenn de mech jetzt objeholpe hast trett ich dech et iesch ens en de Vott, dann kanst du wieger lache. Nachdem wir seine Brille auch wiedergefunden hatten, ging unser Marsch in Richtung Zuckerfabrik, wo wir dann pünktlich zum Mittagessen eintrafen. Wir haben damals bei unserer anstrengenden Arbeit und langen Arbeitszeit immer noch Zeit gefunden, uns gegenseitig auf den Arm zu nehmen. Ich muß noch festhalten, daß auch die Herren Senioren Hoppe, Weyermans und Köhlings in der Mittagspause mit uns knobelten. Jeder hatte drei Streichhölzer in der Hand, und dann wurde die Faust auf den Tisch gelegt und die Anzahl der vorhandenen Streichhölzer geraten. Der Einsatz bei diesem Spiel war nie mehr als 10 Pfennige, und trotzdem sah man den Senioren an, daß zu deren Zeit auch der Groschen einen enormen Wert hatte.

Nachdem die Herren Hoppe und Köhlings in den hochverdienten Ruhestand gewechselt hatten, war das Rübenbüro von Hans Grandke und mir sowie von den Damen Frau Korbmacher (Fräulein Deden) und Otti Schmitz (Fräulein Klaßen) lange Jahre besetzt. Als erste Feststellung kann ich mit Stolz behaupten, daß ein derartiges uneigennütziges Zusammenarbeiten kaum irgendwo und irgendwann stattgefunden hat. Es ist mir nicht bekannt, daß wir einmal eine nennenswerte Auseinandersetzung gehabt hätten. Selbst unsere Herren Prokuristen haben diese Tatsache mehrere Male erwähnt. Auch darf ich genauso stolz darauf hinweisen, daß die genannten Damen und alle Frauen, die danach zu uns kamen, sehr gerne und mit Freude bei uns ihren Dienst getan haben.

Die Zeit der Lochkarte war für unsere Frauen besonders schwer. Es ist manche Träne geflossen, wenn Josef Korbmacher aus Köln zurückkam und ein kompletter Tageseingang, ca 1000 Fuhren, mußte neu gelocht werden. Später bei den Lochstreifen war die Technik etwas ausgefeilter und alles klappte besser. Man konnte sich sogar hier und da ein Späßchen erlauben. Frau Korbmacher mußte einmal etwas früher nach Hause und fuhr darum mit dem Bus (Rheinbahn). Während sie das letzte Journal lochte, ging ich hin und füllte ihre Geldbörse mit diesen Locherschnitzel, die beim Lösen der Fahrkarte einigen Wirbel auslösten. Frau Korbmacher brauchte aber keine Reinigungsgebühr zu zahlen, weil sie so ein nettes Mädel sei, wurde gesagt. Als ich einige Sonntage danach in Elsen die Messe besuchte und andächtig dem Oberpfarrer lauschte, bemerkte ich plötzlich die grünen Locherschnibbel auf meinem Mantel und vor mir auf der Erde. Frau Korbmacher hatte Gleiches mit Gleichem vergolten und ich schlich mich, diesmal schon vor dem letzten Segen, aus der Kirche.

So war das eben bei uns im Rübenbüro, obwohl weder Grandke noch ich ein Weiberheld waren, alle Frauen kamen gerne in unser Büro und wenn es nur aushilfsweise für einige Tage war. Es ist auch ein paar mal vorgekommen, daß wenn eine Frau einige Wochen in unserer Atmosphäre arbeitete, sie urplötzlich schwanger war. Dann prasselten natürlich die unbegründeten Bemerkungen auf uns hernieder. Ich führe dieses Wohlwollen im Nachhinein darauf zurück, daß bei uns beiden so ziemlich alles stimmte, in der Familie so gut wie im gesamten privaten und beruflichen Bereich. Bei der Zuckerfabrik gab es ja in früheren Jahren keine Frauen in den Büros, Steno und Schreibmaschine blieb den Lehrlingen und jungen Angestellten überlassen. Außer unseren Frauen im Rübenbüro waren dann zwar zeitversetzt Helmi Kulartz, Gisela Monissen, Frau Brüser, Frau Carsten, Frau Gerlich, Frau Nover, Frau Gerda Lambertz und zuletzt lange Jahre Frau Vierkötter als Sekretärin bei unserer Firma beschäftigt. Es wäre mir ohne weiteres möglich, das eine oder andere Anekdötchen hier loszuwerden. Tatsache ist jedenfalls, daß mit den Damen ein neues Zeitalter bei der Zuckerfabrik anbrach. Wir Männer hatten nicht nur unsere Kleidung mehr unter Kontrolle, auch unser Umgangston veränderte sich von einem Tag auf den anderen. Außer den Bürodamen hatte die Firma ja mittlerweile auch ca. 10 Zuckermäuse eingestellt. Das waren die Frauen, die an einer Zuckerverpackungsmaschine ihre Arbeit taten. Bis dahin war Zucker nur in 100 kg Jutesäcken oder in 50 kg Papiersäcken verkauft worden. Der Kunde verlangte aber abgepackte Ware. Darum wurde eine Maschine installiert, die zwar die1 kg- oder auch ½ kg Pakete abwog und zuklebte, aber die 10 kg Umpackverklebung sowie das Stapeln auf Paletten geschah noch von Hand. Diese Frauen arbeiteten in schicken weißen Kitteln mit Häubchen auf dem Kopf und wurden schnell und das nicht nur in der Fabrik mit Zuckermäuschen tituliert. Hier wäre noch nachzutragen, daß diese Frauen nach Leistung (Akkordlohn) bezahlt wurden. Leider machten auch die ihren eigenen Akkord kaputt, die Kalkulatoren hatten nicht mit der Geschicklichkeit der Frauen gerechnet. Tatsache war jedenfalls, daß nach einigen Wochen die Monatseinkommen der Frauen selbst die Bezüge einiger Meister und anderer Facharbeiter überstiegen. Die neue Verpackungsanlage wurde noch einmal durchkalkuliert, aber die Bezüge waren dann nicht mehr ganz so lukrativ. Viele Jahre später wurden die Zuckermäuse bei der Kampagne im Rübenlabor eingesetzt und standen unter meiner Obhut. Allen muß ich ein ganz großes Lob aussprechen, ob jung oder älteren Datums, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Arbeitsmoral waren bei den Damen angeborene Eigenschaften.

Festzuhalten wäre außerdem noch, daß in den Jahren um 1965 die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Für die Zuckerfabrik flog damals unser Meister Holz nach Nordspanien und brachte ca. 20 Arbeiter mit. Keiner von uns konnte spanisch und umgekehrt war die Unbeholfenheit auch vorhanden .Trotzdem ist im nachhinein die Feststellung zu treffen, daß dies ein gelungener Wurf war und von diesen Leuten heute noch welche bei uns sind oder aber bis zur Pensionierung in unserer Firma tätig waren.

Ich habe einige Male betont, daß bei aller Arbeit immer noch Zeit für ein Späßchen blieb: Eines Tages kam ich zum Mittagessen, meine Frau stand im Laden und würdigte mich nur mit einem knappen Gruß. Nach langem hin und her zeigte sie mir dann einen Brief vom Ministerium für Bevölkerungsaufbau. Ich sollte mich in Düsseldorf zwecks  Fortpflanzungsangelegenheit zur Verfügung stellen. Der Briefkopf sowie der ganze Brief erweckten im ersten Moment nicht den Eindruck einer Fälschung, obwohl ich laut lachen mußte, als ich die Zeilen las. Meine erste Reaktion:„ Da will Grandke mir einen Streich spielen“, wovon meine Frau nichts hören wollte. Mein Arbeitskollege war zwar ein echter Freund, aber für jeden dummen Streich gut, aber konnte umgekehrt auch etwas einstecken. Da ich am Arbeitsplatz über die Sache Stillschweigen bewahrte, dauerte es Monate, bevor Grandke mal die Frage nach irgend einer Postsache von einem Ministerium erwähnte. Er war äußerst erstaunt, daß er für mich sofort als Täter in Frage kam, was meine Frau natürlich bestätigen konnte. Unsere Familien harmonierten auch miteinander. Außer den betrieblichen Zusammenkünften gab es kaum ein Familienfest, an dem wir nicht gemeinsam teilnahmen. Frau Grandke war eine nette Person, welche auch immer auf Ausgleich bedacht war. Die drei Töchter waren alle verheiratet und hatten bei der Auswahl ihrer Partner jeweils einen Volltreffer gelandet. Alles in allem war, wenn ein Geburtstag oder sonst eine Feier anstand bei Grandkes immer, mittlerweile waren auch je 2 Enkelkinder vorhanden, ein volles Haus. Hans Grandke und seine Frau waren in Glogau geboren, hatten dort eine Bäcker- und Konditorei betrieben und wurden nun als Flüchtlinge ins Rheinland verschlagen. Er hatte eine schwere Verwundung erlitten, so daß sein rechter Arm und seine Hand gelähmt waren. Zuerst hatte er einige Zeit bei der Firma Schramm in Neuss gearbeitet, wo Nudeln, Pudding und andere Back- und Kochprodukte hergestellt wurden. Trotz seiner schweren Behinderung stand er im Beruf so gut wie im Familienleben seinen Mann. Seine Familie und er waren Flüchtlinge, wie man sie damals kaum erleben konnte, sie hatten echte Werte zurücklassen müssen, aber hatten den Lebensmut nicht verloren. Von ihm konnte ich in meiner beruflichen Laufbahn manches  lernen und übernehmen. Als die Zeit und der Geldbeutel es erlaubten, haben wir manch ein Gläschen, oder sagen wir Fläschchen, zusammen geleert. Einmal hatten wir um eine Flasche Doornkaat gewettet, die ich dann gewann. Er kam dann tags drauf mit großer Lederaktentasche und brachte mir damit ein Portionsfläschchen Doornkaat zu DM 1,00. Es passierte auch, daß wir tagelang nichts zum Einnehmen hatten. Während der Kampagne kam meist gegen 11.00 Uhr der Arzt. Dann lud der kleine Müller uns zur Sprechstunde ein und verabreichte uns, .pro Mann 2 Schnäpschen. Der kleine Müller war Rainer Müller, dessen Bruder Jean, der große Müller genannt, im Werk Dormagen das Rübenbüro leitete. Rainer Müller war von seinem Bruder in Wevelinghoven eingeschleust worden, er bediente im Jahr über die Telefonzentrale und in der Kampagne war er Bauernvertreter. Für beide Posten war nicht unbedingt viel Können erforderlich und Rainer konnte nebenbei noch gut den Doktor für trockene Kehlen verkörpern. Mein Kollege Grandke hatte oft Halsschmerzen und mußte den Arzt dann zweimal aufsuchen. Grandke nahm gerne einen zur Brust, solange er nicht Auto fahren mußte.

In den letzten Berufsjahren hatte seine Tochter Marlies in Delrath mit ihrem Willi ein Haus gebaut und für die Eltern eine Wohnung eingeplant. Hans war damals bestimmt 58 Jahre, als er bei mir die ersten Fahrstunden bekam. Er brauchte nur ganz wenige Stunden beim Fahrschullehrer und kam so für wenig Geld zum Führerschein. Auf dem Gelände der Zuckerfabrik, wo alle straßenverkehrsähnlichen Bedingungen vorhanden waren, habe ich auch meiner Frau, meinen Schwestern und einigen Bekannten die ersten Schritte im Autofahren beigebracht und somit manche Fahrschulstunde gespart.

Wenn wir während der Stillstandszeit, das ist bei den Zuckerfabriken die Zeit, wo keine Kampagne ist, also wenn keine Rüben verarbeitet werden, mittags von Tisch kamen, war immer die erste Frage:„Na was gabs denn zu Mittag?“ Wenn mir dann Bratwurst gut geschmeckt hatte sprach mein Freund bei nächster Gelegenheit von Mett im Darm. Wenn er von italienischen Röhrennudeln sprach, hatten mir unsere Makkaroni auch gut geschmeckt. So steigerten sich unsere eingenommenen Menüs von Woche zu Woche und unsere Mitstreiter in den Büros, die auch informiert sein wollten, staunten über die Vielfalt der klangvollen Gerichte, die täglich von unseren Frauen fabriziert wurden.

Nun muß ich mal über einen schreiben, der uns allen, ob Rittersmann oder Knapp, mit seiner geistreichen, humorigen Art, selbst dann wenn wir vor Arbeit nicht mehr weiter wußten, Freude bereitete und uns lachen ließ, wenn uns der Kopf nach etwas anderem stand. Ich spreche von Alois Küpper, welcher bei einer großen Baufirma, ich glaube Hoch - Tief, die bei der Zuckerfabrik die Zuckersilos gebaut hat, die Kantine führte, und dann bei Pfeifer und Langen hängen blieb. Alois Küpper war ein sehr intelligenter Mann, der bei uns sehr wertvoll war, weil er alle Arbeiten gleich welcher Art zur Zufriedenheit erledigte. Er kam aus Westfalen und hatte in der Ortschaft Busch bei Hemmerden viele Jahre als Verwalter in einem landwirtschaftlichen Betrieb gearbeitet. In Busch hatte er auch seine Frau kennengelernt, welche er unter Freunden ein Buschweib nannte. Dazu aber später mehr. Bei unserer ersten persönlichen Unterredung erzählte er mir, daß er, dem Wunsch seiner Eltern entsprechend, Priester werden sollte. Nach vier Jahren Gymnasium bekam er aber den bekannten blauen Brief mit nach Hause, womit dieses Kapitel erledigt war. Er hatte aber immer einen guten Draht zu seiner Familie bis ins Alter. Auch bei der Zuckerfabrik betrieb er eine Kantine, in der außer Limo, Sprudel und Cola sämtliche auch nicht genehmigten Artikel vertrieben wurden. Vor allem war der Umsatz in Eiern enorm. Da er mit den Bauern viel Kontakt hatte, fehlte es ihm nicht an Eierlieferanten. Unser Prokurist Herr Kluge bekam immer ausgesuchte dicke Eier und so dauerte es nicht lange, bis die übrigen Betriebsangehörigen alle Klugeeier haben wollten. Die Getränke mußte er mit dem Betriebsrat verrechnen, wobei nie ein Manko festgestellt wurde. Alois hatte immer so gut kalkuliert, daß er bei den Betriebsfesten einige Präsente zur Verlosung stiften konnte. Er war bis auf die höchsten Herren in unserer Firma mit allen per du und sprach jeden mit Freund an. Einmal ging ich ihn in seiner Kantine während der Mittagszeit besuchen, er öffnete seinen Henkelmann und kippte diesen in seinen Teller. Meine Bemerkung: „Mensch, das Würstchen sieht aber nicht besonders aus, oder hat dein Schwiegersohn dieses nicht gemocht und du bekommst es heute serviert?“ Ich war schon in Deckung gegangen, er legte los aber ebbte gleich ab und meinte, Hans du könntest tatsächlich recht haben. Als wir die Qualitäten seiner Frau noch nicht kannten, haben wir ihn bei allen Festivitäten richtig gefüttert, er hatte immer Durst und seine Zunge war dann sehr gelöst. Wenn er dann nach Hause kam konnte es ihm passieren, daß er mit der Hundehütte vorlieb nehmen mußte. Als unser Magazinverwalter Georg Braun einmal einen vierwöchigen Urlaub antreten wollte, mußten Küpper und ich ihn vertreten. Die Materialbuchführung war mir schon länger übertragen worden und Alois sollte die Ausgabe übernehmen. Vom Magazin aus wurden auch alltäglich die Wetterdaten aufgezeichnet. Wir wußten, daß Alois sich trainieren sollte und präparierten das trichterähnliche Regenmeßgefäß mit einem Kirschkern und einer süßen Kirsche. Es hatte schon tagelang nicht mehr geregnet und somit ging alles seinen gewohnten Gang. Als dann aber in einer Nacht ein schweres Gewitter niederging und wir schon unseren Streich vergessen hatten, kam Alois Küpper von seiner Wetterstation zurück und vermerkte, obwohl das gesamte Fabrikgelände mit großen Tümpeln und Pfützen belegt war:„Herr Braun es tut mir leid, aber diese Nacht hat es nicht geregnet!“ Dann gab es ein wenigstens gleich schweres  Gewitter, wie in der Nacht, aber das war von Georg Braun inszeniert. Dem armen Alois war die Primäre derart versaut, daß er am liebsten diesen Posten wieder abgeben hätte. Unsere Betriebsleitung machte aber kein Aufsehen und nahm irgendwelche Vergleichszahlen aus anderen Gewittern in Betracht. Die Aufregung des Herrn Braun ist aber verständlich, wenn man weiß, wie exakt und genau, ja wie pedantisch dieser Mann war. Beispiel, Es gab im Magazin weit über 1000 Artikel, wo laufend Zu- und Abgänge zu verbuchen waren, aber die Bestände stimmten immer. Braun schloß abends das Magazingebäude ab, holte 10 m weiter sein Fahrrad aus dem Ständer, ging wieder zur Magazintüre und kontrollierte noch einmal. Böse Zungen behaupteten, wenn Georg mit seiner Frau ins Bett geht, gehört Wasserwaage und Zollstock zum erforderlichen Werkzeug.

Georg Braun hatte eigentlich schon immer zittrige Finger, aber konnte die kleinste Uhr reparieren oder den Kollegen auch jeden kleinen Splitter aus dem Auge holen. An dem Abend, wo er mir für vier Wochen seinen Schreibtisch übergab, spielte sich folgendes ab.

Der übergroße Schreibtisch war mit grünem Linoleum bespannt und war blank geputzt wie eine Solotrompete. Die Schale, in der die Schreibutensilien waren, ebenfalls pico- bello in Ordnung. Bleistift, Blaustift, Rotstift und Grünstift waren alle angespitzt und lagen mit der Spitze nach links alle säuberlich in der Schale. Als Herr Braun uns die letzten Anweisungen gegeben hatte, meinte er:„Moll, nun wünsche ich, daß ich in vier Wochen alles wieder so antreffe, wie ich es verlassen habe!“Alois Küpper darauf:„Und wehe dir wenn die einzelnen Stifte einen Millimeter kürzer oder länger geworden sind.“Küpper brauchte sich dann nicht mehr von Herrn Braun zu verabschieden.

Unser Freund Küpper war im Magazin genau so zu Hause wie im Wiegehaus oder in der Zuckerausgabe. Er nahm Heiz- und Rohöl in Empfang oder machte auch Waschproben, wenn Landwirte mit ihren Schmutzprozenten nicht einverstanden waren. Einmal sprach unser Herr Kluge ihn im Wiegehaus an und meinte, wie lange wir noch mit seiner Mitarbeit rechnen könnten. Küpper meinte schlagkräftig:„Ja Herr Kluge, wenn ich hier mal aufhöre, können sie ruhig drei neue Leute einstellen, und die brauchen noch nicht all zu dumm sein“. Ein anderes mal hatte er im Magazin Bestandsaufnahme gemacht, als die Schlußbesprechung anstand, gefiel Herrn Dr. Haberecht von der Hauptverwaltung nicht, daß die Inventurlisten, die ja vor Ort geschrieben werden, alle äußerst sauber waren. Herr Kluge mußte den Zähler nach oben zitieren, dies war A. Küpper. Die Befragung durch Herrn Dr. Haberecht ging ungefähr folgendermaßen vonstatten. Herr Küpper, sagen Sie mir mal bitte, wie es möglich ist, daß ihre Listen, obwohl sie gezählt und geschrieben haben, so sauber sind? Ich habe beim Zählen Handschuhe getragen und diese dann bei den Eintragungen ausgezogen! Küpper konnte sich dann entfernen und Dr. Haberecht fühlte sich zuerst veräppelt, aber Herr Kluge so gut wie Dr. Lührs verbürgten sich für diese Aussage. Als Küpper bereits Rentner war und seinen siebzigsten Geburtstag feierte, war ich bei der Abordnung, die ihn in Busch besuchten. Seine Schwester kümmerte sich mehr um ihn und uns, wie Frau und Tochter. Man spürte förmlich, daß seine Erzählungen über das Buschweib tieferen Sinn hatten.

Einige Wochen danach mußte ich Gut Bickhausen besuchen, welches in unmittelbarer Nachbarschaft von Küpper liegt. Er stand in Busch, nahe seines Hauses auf der Straße und bat mich mal reinzukommen. Wegen der mir bekannten Verhältnisse verneinte ich, ja ich wollte ihm Unangenehmes ersparen. Dann stellte sich aber heraus, daß er mit mir in den Garten auf eine Bank gehen wollte, wo wir uns einige Zeit auch unterhielten. Ich verabschiedete mich dann und er brachte mich an die Straße zu meinem Wagen. Wir wechselten noch ein paar Worte, als seine Frau per Fahrrad an uns vorbeifuhr und ihn deutlich wissen ließ, daß die Haustüre noch aufstand. Ja Frau ich gebe acht, war seine Reaktion. Seine Frau fuhr keine 5 Meter weiter, drehte sich auf der Straße, sah ihren Mann noch an meinem Wagen stehen und packte dann in einer derart unschönen Art aus, daß ich denken mußte, die Frau kann nie eine Landwirtstochter gewesen sein, sondern kommt aus den untersten Schichten. Alois konnte mir mit Tränen in den Augen nur sagen:„Ihr habt mir ja nie geglaubt, wenn ich über mein Eheglück sprach.

Einige Monate später kommt unsere Telefonistin in unser Büro und erkundigt sich, ob wir die Todesanzeige von Frau Küpper gelesen hätten. Frau Martin kannte die Verhältnisse noch etwas ausführlicher wie Grandke und ich, war sie doch mit unserem Freund Alois zusammen nach Rom zum Papst gepilgert. Da er wegen seiner Personalakte unbedingt an dem Tag noch erscheinen mußte, berieten wir uns über unser Verhalten bei seinem Erscheinen. Wir drei waren einhellig der Meinung, ein Glückwunsch wäre der Wahrheit sehr nahe gekommen, aber das war ja nicht möglich. All unsere Beratungen und guten Vorsätze fielen wieder über den Haufen, denn er stand nachmittags urplötzlich, von keinem vorher gesehen, auf der Schwelle unseres Bürogebäudes und rief für jeden verständlich:„Bitte jetzt keine abfälligen Bemerkungen!“Die wurden denn auch nicht gemacht, aber beim Kondolieren war auch kein nasses Auge zu entdecken. Unserem Freund Alois waren leider nur noch wenige Jahre beschieden. Er verunglückte mit seinem Fahrrad tötlich, nahe der Ortschaft Busch, als er die vielbefahrene Rübenautobahn überqueren wollte.

Meine Berufslaufbahn bescherte mir nun auch einige angenehme Überraschungen. Ich wurde zur Besichtigung bei den Saatgutzüchtern KWS, Strube Dieckmann und Dippe eingeladen. Das waren immer lehrreiche Tage, die für mich nicht mit Kosten verbunden waren. Ebenso wurde jedes zweite Jahr im Institut für Zuckerrübenforschung in Göttingen eine Veranstaltung abgehalten, die drei Tage dauerte und mit Vorträgen und Feldbegehungen großen Anklang fand. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich auch hier und da mal die Gepflogenheiten der sogenannten besseren Herren kennenlernen. Ich hatte bis dahin noch nie in einem Hotel übernachtet, habe aber auch dann nicht die Großzügigkeit der einzelnen Firmen ausgenutzt.

Wenn irgendein Dr. Agr. oder ein anderes hohes Tier einen Vortrag gehalten hatte, wurde dieser Vortrag nach einer Pause zur Diskussion gestellt. Hierbei kam immer viel Wissenswertes zu Tage. Mir ist noch gut in Erinnerung, daß der Rübenbüroleiter unseres Werkes Euskirchen und sein sogenannter Wasserträger, ein Landwirt, immer die ersten Wortmelder waren. Ihr Fachwissen war nicht angeboren, er war ehemaliger Offizier und der Wasserträger war Landwirt. Eines Tages war bei Pfeifer und Langen besonders in Euskirchen die Hölle los. Eine ganz junge Angestellte hatte Herrn Schr.--- und seinen Wasserträger des vielfachen Betrugs überführt. Sein Auftreten und die Arroganz den Mitarbeitern gegenüber hatten ihn jahrelang diese Schlechtigkeiten ausführen lassen. Alle Pfeifer und Langen Bosse, die gehaltsmäßig auf der Wellenlänge des Herrn Schr.--- basierten, hatten zwar den Lebenswandel (Hochstapelei und Weibergeschichten) manchmal moniert, aber überführen konnte ihn eben nur diese junge Angestellte, welche die Scheinkonten entdeckte. In Euskirchen wurde daraufhin aber auch alles auf den Kopf gestellt und kontrolliert. Die höchsten Gremien unserer Hauptverwaltung verstanden einfach nicht, daß eingefleischte alte Kaufleute im Werk Euskirchen nicht hinter diese Schlechtigkeiten gekommen waren. Herr Schr.--- hatte es fertiggebracht, mit Raffinesse und Frechheit alle Kontrollmöglichkeiten auszuschalten.  

Eine erfreuliche Erinnerung für mich und andere Mitarbeiter war der hundertste Geburtstag unseres Werkes Wevelinghoven im Jahr 1974. Dieses Fest war gut und großzügig vorbereitet und in der Ausführung kaum zu übertreffen. Vom lieben Gott, so wurde unser oberster Chef, der Herr Gottlieb von Langen genannt, über die hiesigen Bosse aus Wirtschaft und Politik war alles anwesend. Unser Dr. Lührs war an diesem Tag mal richtig vornehm gekleidet. Ihn kannte man eigentlich nur als wirklichen Mitarbeiter, er packte überall an, wo es nötig war. Wenn der sich seine Nase mal schneuzte, wurde das Taschentuch manchmal geschont und die Rockärmel beansprucht. Am Jubiläumstag hielt er eine Festrede, die hieb- und stichfest war und von Groß und Klein verstanden wurde. Er hatte unter anderem auch den Werkschor

unseres Schwesterwerkes  Dormagen eingeladen und war von dessen Vorträgen so begeistert, daß er an Ort und Stelle seine Belegschaft aufforderte, auch einen Chor zu gründen. Wenige Wochen später hatten sich um die 30 Männer zusammengefunden und gründeten den MGV Gilbach, Werkschor der Zuckerfabrik Wevelinghoven. Die ersten Monate haben wir bei den Sangesfreunden in Dormagen  geprobt, aber bald war ein Instrument und auch ein Dirigent zur Stelle. Wir haben jetzt, im Mai 1999 zum 25. Bestehen unseres Chores ein Jubiläumskonzert veranstaltet, welches der krönende Abschluß eines viertel Jahrhunderts ‚Singen am Arbeitsplatz‘ war. Unser Dr. Lührs übernahm vom ersten Tag an die Präsidentschaft und war uns bis zu seiner schweren Krankheit, ja letztlich bis zum Tode, ein nachahmenswertes Vorbild in allen Belangen. Vom Krankenlager aus verabschiedete er sich mit folgenden Zeilen von seinem Chor:

 

 

 

 

 

„Lieber Herr Lüngen, (1.Vorsitzende)

lieber Adi Hermanns, (Dirigent)

meine lieben Sänger,

 

zunächst möchte ich mich für Euer Geburtstagsgeschenk ganz herzlich bedanken, danach für Euren wunderbaren Weihnachtsgruß, mit den besten Wünschen für meine Genesung.

In Anbetracht dessen, wie es mich erwischt hat, zählen solche Wünsche doppelt, gleichzeitig wird einem bewußt, daß man seine persönliche Zeit wohl doch nicht immer ganz richtig eingeteilt hat, womit ich sagen möchte, daß meine Zeit mit Euch wohl auch zu kurz gekommen ist.

Leider ist gewesene Zeit nicht nachholbar, so daß uns nur noch die vor uns liegende Zeit verbleibt, die wir für ein stärkeres Miteinander nutzen sollten.

Jede Minute, die wir nicht so nutzen, auch bei den wöchentlichen Chorproben, ist unwiederbringbar verloren. Daran sollte uns nicht eine Krankheit erinnern, sondern der wirkliche Sinn unseres Lebens, der allumfassend auch mit:„Bewußt gelebter und praktizierter Nächstenliebe“ verstanden werden kann.

Für das bereits begonnene Jahr Euch allen mit Euren Familien alles Gute.

Es grüßt Euch euer Präsident

Dr. Hermann Lührs“

 

Wie groß die Lücke ist, die durch den Tod unseres Dr. Lührs in seiner Familie, in der Firma und letztendlich in unserem Chor hinterlassen wurde, kann nur derjenige ermessen, der mit ihm längere Zeit zusammen arbeitete. Ob Arbeiter oder Angestellte, ob Meister oder Betriebsleiter, alle hatten in ihm einen Direktor, der zuerst für seine Leute da war und jedem zu Hilfe kam, gleich wo es war. Ich brauchte einmal ein neues Auto, da ich aber zur Zeit knapp bei Kasse war, aber die Fabrik ihren Kombi absetzen wollte, erkundigte ich mich nach dem Preis. Er nahm mich mit in das Zimmer des kaufmännischen Leiters und machte dort den Kombi derart schlecht, daß mir bald die Lust an diesen Wagen vergangen wäre. Als er dann aber noch laut und deutlich dem kaufmännischen Leiter sagte:„Die Kiste ist mit 1000, -- DM noch überbezahlt“, wußte ich, woher der Wind wehte. Nachdem ich diesen Wagen 1 1/2 Jahre gefahren hatte, bekam ich beim Händler DM 2.500  Preisnachlaß auf meinen neuen Wagen Es  gab kein Betriebsfest oder im Chor keine Festivität sowie keinen Kegelabend, wo er nicht dabei war. Wenn man im Betrieb in Abwesenheit von ihm sprach, hieß es einfach nur Hermann. Hermann war immer und überall zur Stelle, wo seine Person und sein Können gefragt war. Beim Anfahren der Fabrik zur Kampagne sah seine Familie ihn erst, wenn die Fabrik lief, er verlangte sehr viel von seinen Leuten, war aber bereit und in der Lage, das Schwierigste selbst zu vollführen.

In der Kläranlage, und zwar im Eindicker, war eine Pumpe verstopft. Nach menschlichem Ermessen mußten sich einige Rüben in der Pumpe verirrt haben. Es gab zwei Möglichkeiten, den Schaden zu beheben, entweder man tauchte in die lehmige Brühe hinein, um die Rüben zu entfernen oder man ließ den Eindicker ablaufen und hatte in ca. 6 Stunden dann die Gelegenheit, die Pumpe zu reinigen. Hermann entschied sich für die erste Version und übernahm die Tauchaktion im Adamskostüm höchst persönlich. Ewald Schumacher stand mit einem sauberen Kesselanzug und einer Decke bereit und geleitete unseren Boß dann zur Dusche. So war er in allen Belangen nicht nur unser Direktor, sondern auch der beste Arbeiter in der Fabrik. Den feinen Herren unserer Hauptverwaltung war unser Dr. Lührs oft etwas unangenehm. Ihm stand ein Wissen und Können zur Verfügung, wie es eigentlich nicht vorstellbar ist. Dadurch konnte er überall mitreden, seine Erfindungen und Patente auf dem Gebiet der Zuckergewinnung werden seiner Frau heute noch manche Mark zusätzliche Einnahmen bescheren.

Dr. Lührs war auch ein guter Flieger, er besaß den Flugschein für Motorflugzeuge, aber fühlte sich als Segelflieger so recht in seinem Element. Seinem jüngsten Sohn Martin konnte er die Segelfliegerei noch aus erster Hand beibringen. Für den Aeroclub war Hermann Lührs ein ganz wertvoller Verfechter für den mittlerweile zur Selbstverständlichkeit gewordenen neuen Flugplatz auf der Gustorfer Höhe. Er bemühte sich noch zwischen Landwirten und Kommunen für dieses Objekt, als ihn die Krankheit kaum noch vom Bett los ließ. Genauso aufopferungsvoll und einsatzfreudig war er im Tennisclub und allen anderen Vereinen oder Gremien, wo er tätig war. Keiner brauchte ihn je für irgend etwas anzustoßen, er hatte sehr große Hände und noch größere Füße, und so lange er gesund war, ungebändigte Kraft, die bei seiner enorm hohen Intelligenz immer an der richtigen Stelle eingesetzt wurde.

Ich könnte von und über unseren Dr. Lührs noch einige Seiten zu Papier bringen, aber es gab vor und nach ihm für mich Vorgesetzte, mit denen allen ich bestens fertig wurde, aber die Bindung von Mensch zu Mensch war in diesem Fall, und das nicht nur bei mir, doch eine besondere.

Daß Menschen zur Zeit des Arbeitslebens mehr als ¾ der Zeit an ihrem Arbeitsplatz verbringen war mir in der Jugend unbekannt. Nun ist man bei einer Zuckerfabrik, wenn man seine Tätigkeit ernst nimmt, durch Kampagne und Kalkausbringung besonders arrangiert. Trotzdem möchte ich nun  mal wieder meinen privaten Bereich zu Wort kommen lassen. Es fragt sich nur, wo ich wieder einen geeigneten Anfang finde.

Unsere Tochter war mittlerweile im Laden ihrer Mutter als Lehrling tätig. Sie wurde später von Frau Peil übernommen und machte die Kaufmannsgehilfenprüfung. Nachdem Gertrude 10 Jahre lang ein Einzelkind war, kam - und das auf ihrem Namenstag - Bruder Stefan zur Welt. Beide waren von Anfang an gut zu einander und wurden von Mutter und Vater, trotz aller Arbeit, zu vernünftigen Menschen erzogen. Es ist keineswegs übertrieben, wenn ich behaupte, daß wir ein harmonisches Familienleben absolviert haben. Unsere Kinder brauchten auf nichts zu verzichten, wurden aber auch nicht zu Wohlstandsakrobaten erzogen. Sie besaßen beide schon als Kinder die Tugend der Zufriedenheit. Beide hatten ihre Spielzeuge, womit sie aber recht gut umgingen. Wir bemühten uns, den beiden Radfahren, Schwimmen und Schlittschuhlaufen beizubringen. Auch haben wir an allen Elternsprechtagen oder Versammlungen, welche Schule und Ausbildung betrafen, teilgenommen. Die Familie, besonders aber unsere Kinder waren stets erste Priorität.

Gertrude war so ziemlich das erste Enkelkind in der Familie, sie war darum keineswegs verwöhnt, aber überall gerne gesehen. Sie war einfach pflegeleicht und fand sich schnell zurecht. Zudem war sie, solange wir in Fürth wohnten, bei unseren Nachbarn Merzenich beheimatet. Dort waren außer dem Ehepaar Merzenich noch drei große Töchter im Haus, die mit Gertrude alles ge- und verbotene anstellten. Als Herr Merzenich plötzlich verstarb, war Gertrude diejenige, welche vier Frauen über den ersten Schmerz hinweghalf. Für unsere Tochter blieb die Familie Makala, Merzenich konnte sie noch nicht sagen, lange Zeit ihr zweites Zuhause. Frau Merzenich war eine sehr belesene, intelligente Frau, bei der auch das schwerste Kreuzworträtsel aufgelöst wurde. Ihrer Erzählung entsprechend war sie ein Nachkömmling, welcher der älteren Schwester schon vor der Geburt Sorgen bereitete. Besagte Schwester sollte nämlich als Taufpatin fungieren, aber ließ ihren Vater diesbezüglich mit einigen unsanften Worten im Regen stehen. Als sie aber von Nachbarn und Freunden erfahren hatte, daß man kein Patenangebot abschlägt, wollte sie beim Vater alles in Ordnung bringen und Patin werden. Der Vater aber sagte zu ihr:„Du hast einmal abgesagt und dabei bleibt es, aber wenn wir noch ein Kind bekommen sollten, bist  du die  erste Anwärterin“.

Gertrude und auch nachher Stefan sind auch immer gerne bei Tante Christel (meiner ältesten Schwester) gewesen. Onkel Ludwig hatte schon früh ein Auto und war im Paddelclub. Zudem hatten die ein Zelt, wo die Kinder immer gerne drin schliefen. Mein Vater bezeichnete diese Art Urlaubmachen immer als Zigeunerleben. In meinem Elternhaus in Orken war sonntags immer richtig was los, an Namenstagen oder sonstigen Feiertagen ging es richtig rund. Die älteste Schwester hatte 2 Kinder, mein Bruder 2, wir hatten 2 und die jüngste Schwester hatte 1 Kind. Es kam oft vor, daß außer den Kindern aus der Familie noch Besuch mit Kindern kam und ich mich dann notgedrungen mit der Rasselbande befaßte. An normalen Sonntagen, wenn nicht mehr Kinder als Finger an einer Hand vorhanden waren, konnten  die sich frei bewegen. Natürlich zankten die sich auch mal. Trotzdem, mein Vater war erst zufrieden, wenn er alle Schäflein im Stall hatte. Dann wurde etwas getrunken und heiß über Politik, Kirche und andere aktuelle Themen diskutiert. Während der Herbst- und Wintermonate gab es ab und zu auch mal frische Muscheln.

Unvergessen bleibt für mich die Goldhochzeit meiner Eltern. Unsere Mittel waren zwar stets bemessen, aber nachdem das Haus wieder aufgebaut und renoviert war, konnten die Eltern sich ein solches Fest erlauben. Vater war nie arbeitslos gewesen und hatte gut verdient, so daß seine Rente dementsprechend war, und meine Mutter hatte durch solide Haushaltsführung zu diesem sagen wir Wohlstand beigetragen. Jedenfalls war die Goldhochzeit ein gelungenes Fest, wo am Vorabend die ganze Schillerstraße, die Arbeitskollegen mit Werkschor und die Vereinsmitglieder der Vereine anwesend waren. Am Goldhochzeitstag war zuerst eine Messe und dann war die ganze Verwandtschaft zur Gaststädte Hausmann in Noithausen eingeladen. Die Eltern hatten auch Nichten und Neffen beider Elternteile eingeladen, so daß ein nettes und amüsantes Häuflein zusammenkam. Komisch, mein Vater drehte sonst jeden Pfennig dreimal um, bevor er ausgegeben wurde, aber in solchen Angelegenheiten war er großzügig. Von den Neffen muß ich meinen Vetter Peter Moll besonders hervorheben. Wir nannten ihn alle Onkel Peter, weil er altersmäßig eher zu der Generation meiner Eltern paßte. Ich glaube irgendwann schon erwähnt zu haben, daß im Elternhaus meines Vaters der Ausdruck ‚meine Kinder, deine Kinder, unsere Kinder‘ paßte und daraus auch enorme Altersunterschiede resultierten. Jedenfalls war unser Onkel Peter in unserer Familie immer Stammgast und blieb das auch bis ins hohe Alter und kurz vor seinem Ableben. Er hatte das Schreinerhandwerk erlernt und wechselte nachher ins Baufach als Einschaler. Onkel Peter wirkte in Orken und nachher auch bei uns in Fürth an jedem Um- oder Neubau mit und brachte sein Wissen und Können bei uns und bei manch armer Familie ein.

Mein Schwiegervater hatte mittlerweile das Land und die sogenannte Hühnerfarm in Gruissem verscheuert und sich aus dem Erlös in Blens in der Eifel ein Haus mit bankrott gegangenem Krämerladen gekauft. Er brachte den Laden zwar schnell wieder in Schwung, aber bei solchen Käufen übersieht man auch einmal schnell die unbedingt erforderlichen Investitionen an Einrichtung und Reparaturen. Ende vom Lied war jedenfalls, daß Opa einige Wechsel unterschrieben hatte, die aber nicht alle eingelöst werden konnten. Eines Tages trudelte bei uns ein Brief ein, in dem er uns seine Lage kund tat und uns um Hilfe bat. Meine Frau war ihrem Vater sehr böse und wollte zuerst nicht helfen, weil bei uns noch soviel anstand, was eigentlich vorrangig gewesen wäre. Trotzdem ging das von mir so sauer verdiente Kampagnegeld zur Eifel, um dort die Verbindlichkeiten zu begleichen. Als der Laden dort halbwegs ertragreich lief,  hatte Opa dort eine Hilfe, der er auch später den Laden verpachtete. Diese Pächterin war bis ca. 50 Jahre noch ledig, machte dann aber die Bekanntschaft mit einem Beamten aus Heimbach und so war dieser Traum schnell ausgeträumt. Unser Opa war dann, erstmalig in seinem Leben, mal für 10 Tage in Urlaub gefahren. Er kam braun gebrannt zurück und erlitt wenige Tage später einen Herzinfarkt. Als ich zum Mittagessen erschien und er noch nicht am Tisch saß, ging ich ihm nach und fand ihn lautstöhnend im Hühnerstall. Ich bestellte Arzt und Krankenwagen, aber leider blieb mein Bemühen ohne Erfolg. Mein Schwiegervater verstarb am nächsten Tag und ließ uns nach vielen guten Jahren auch die schwarzen und schweren Zeiten eines Familien-und  Menschenlebens durchmachen.

Dies war für unsere Familie und besonders für die Kinder ein schwerer Schock. Trotzdem mußte auch bei uns das Leben weiter gehen. Im Moment hatten wir so viel Arbeit, daß uns kaum Zeit zum Begreifen der neuen Situation hatten. Das Haus in der Eifel stand mittlerweile verwaist und leer und mußte dringend gründlich renoviert werden. Da sich trotz vieler Mühen kein Käufer fand, verstand meine Schwiegermutter es, mir dieses Haus aufzuhalsen. Meine Schwäger haben zwar keine Unsummen bekommen, aber für mich war jede kleine Ausgabe eine harte Nuß. Nun hatte ich Gelegenheit, jedes Wochenende und während meines Urlaubs mit Handwerkern, Freunden und teilweise mit Material in die Eifel zu fahren, um dort meine Arbeitskraft und mein Geld zu investieren. Mit der Zeit wurde das Eifeldorf  Blens zu meiner zweiten Heimat. Da ich auch dort einen Garten bearbeitete, in den Heimatverein eintrat und auch mit allen Leuten gut zurecht kam, war ich den meisten Blensern schnell bekannt. Im Laufe der Zeit hatte ich aus dem teilweise zerfallenen Haus  einen Baukörper geschaffen, in dem 3 moderne Duschräume einschließlich Toiletten und mehrere schöne Zimmer vorhanden waren. Es war immer mein Stolz, meinen Besuchern aus der Kollegenschaft oder Kundschaft dieses Anwesen und auch meinen Garten vorführen zu können. Meiner Frau wurde nach meiner Pensionierung die ewige Fahrerei zuviel und ich konnte mich mal wieder nicht durchsetzen, so daß wir alles für meine Begriffe unter Preis verkauft haben.

Unser Sohn Stefan, ich erwähnte es schon, war auch ein zufriedener Junge. Wenn ich behaupte, daß Kinder aus kleinen selbständigen Geschäften arme Kinder im Sinne der Aufwartung sind, meine ich nicht, daß denen etwas vorenthalten bleibt. Unser Sohn wurde als Kleinkind in einen mit einer Wolldecke ausgelegten Zinkwaschkessel gesetzt und in eine Ecke gestellt. Mit zwei Jahren hatte er ein Spielstühlchen und eine Menge Matchboxautos, womit er sich stundenlang die Zeit vertrieb. Seine Leistungen in der Volksschule waren so gut, daß seine Lehrpersonen uns  die Umschulung aufs  Gymnasium vorschlugen. Dort schaffte er auch ohne Unterbrechung und trotz 2 Kurzschuljahren das Abitur. Leider hatte er sehr früh mit Heuschnupfen und anschließend mit Allergie zu tun. Unser Hausarzt Otto Siepe wollte von chemischer Behandlung nicht viel wissen, er empfahl die Nordsee und dort fanden Stefan und wir auch jahrzehntelang Erholung und neue Kräfte für kommende Anstrengungen. Trotzdem ist Stefan im Laufe der Jahre mal an einen Arzt geraten, der ihm mit Spritzen eine gefährliche Allergie aufhalste. Er konnte weder eine Spalt- noch Grippetablette einnehmen. Die Spitze in dieser Zeit brachte ihm einen Allergieschock, der ihn halbtot ins Krankenhaus und dort einige Tage auf der Intensivstation verbringen ließ.

Er trägt heute noch eine Art Amulett am Halsband, worin die für ihn unverträglichen Stoffe vermerkt sind. Für eine einfache Zahnbehandlung mußte er meistens die Uniklinik aufsuchen. Mein Sohn ist mittlerweile als Journalist beim WDR in Düsseldorf beschäftigt und ich habe den Eindruck, daß ihm sein Job viel Freude macht. Er hat in Gierath ein schönes Häuschen gebaut und fühlt sich scheinbar mit seiner Frau dort wohl. Zum Grundstück gehört auch eine wunderbare, mit Sträuchern und Bäumen bepflanzte Rasenfläche, welche von uns bei Bedarf gerne gpflegt wird.

An unseren Kindern haben wir getan, was in unseren Kräften stand und können dementsprechend mit dem Eltern – Kind - Verhältnis zufrieden sein. Leider fahre ich nicht immer mit meinem Schwiegersohn auf der gleichen Schiene, aber jeder muß eben nach eigenem Gutdünken sein Leben gestalten und ich bin mit meinen Methoden und meiner Art zu leben, sehr zufrieden.

In Fürth fühlte ich mich mittlerweile genau so wohl wie früher in Orken. Es gab und gibt hier viele nette Leute. Man verspürt erst so richtig Freundschaft, wenn man auf Mitmenschen angewiesen ist. So erging es mir im November 1991, als ich einen Herzinfarkt erlitt. In dieser Zeit, ob im Krankenhaus oder nachher in der Reha, erfuhr ich sehr viel Anteilnahme und Zuneigung. Ob von Seiten meiner Kolleginnen und Kollegen, ob aus der Landwirtschaft, oder aber besonders die Fürther besuchten mich und waren um mich besorgt.

Um diese Zeit hatten wir unser erstes Fürther - Fest gefeiert. Die Idee wurde bei einem Beerdigungskaffee geboren, und zwar war Hürtgens Christel an einer schweren Krankheit  noch relativ jung verstorben. Wir wurden uns in der Feststellung schnell einig, daß wir immer nur bei traurigen Anlässen zusammen kämen  und unsere Wehwehchen so gut wie auch andere Begebenheiten besprechen würden. Heinz Weyermanns war wohl derjenige, der den Begriff Fürther - Fest  formulierte. Nun wurde aber auch vom Tag an gearbeitet und organisiert. Heinz Rütgens stellte uns großzügig seinen Hof zur Verfügung. Die Firma Rheinbraun wurde angeschrieben und gebeten, uns als Entgelt für Baggerlärm und Kohlenstaub die Musik an unserem Fest zu finanzieren. Alfred Breiden fühlte sich verpflichtet wegen der Geräusche seiner Webstühle, die auch sehr oft noch spät abends liefen, das Bier für dieses Fest zu stiften. An alle bekannten ehemaligen Fürther wurde eine Einladung geschickt. Unsere Frauen machten erstklassige Salate, Bierzapfer, Kellner, Griller und Kassierer waren eingeteilt, so daß eigentlich alles klappen mußte. Da der Wettergott uns zudem noch einen herrlichen Tag bescherte, wurde dieses Fürther - Fest für uns Veranstalter, aber besonders für die Fürther Senioren und ehemaligen Einwohner ein großes Erlebnis.

Wir waren uns einig, an unseren Mitbürgern nichts verdienen zu wollen, und haben praktisch Geld für Geld verkauft und so wurde am gleichen Tag noch vereinbart, dieses Fest zu wiederholen. Es gab noch einige Wiederholungen, die auch alle gut über die Bühne gingen und allen Beteiligten jeweils schöne Stunden brachten. Die schönsten Übrigbleibsel aus dieser Zeit sind aber die monatlichen Zusammenkünfte der Fürther Frauen, die dann zusammen essen gehen und wir Männer treffen uns dann monatlich abwechselnd bei einem von uns zu einem kühlen Trunk, belegten Brötchen und teils heftigen Wortgefechten, die der Sendung “Talk im Turm“ nicht hinten anstehen müssen. Es passiert auch schon mal, daß wir, bei gut dosierter Promille, ein Soldatenlied aus unserer Jugendzeit anstimmen, wobei die Panzer in Afrika die Ketten rasseln lassen.

Die Restbeträge, die aus den einzelnen Fürther – Festen übrigblieben, sind von uns  bzw. von den Leuten, die an und zu den Festen sehr viel Arbeit getan haben, im Jahr 1998 wie folgt veräußert worden:

Wir wurden per Rheinbraunbus nach Hülchrath zum Jägerhof gebracht und haben dort einen schönen Abend verlebt. Es blieben uns aber immerhin noch DM 534,19 übrig. Dieser Betrag wurde dann aufgeteilt zwischen den Kindern von Perm, die DM 265,00 erhielten und dem Kinderkrankenhaus Bethlehem, welches den Restbetrag von DM 269,19 bekam.

So haben sich die nachbarlichen Beziehungen in unserem Dorf etwas vertieft und volle Geburtstage sowie andere Familienfeste werden jetzt in etwas größerer Runde gefeiert. Wir Männer sind ziemlich alle von der gleichen Fakultät, was aber nicht parteipolitisch gemeint ist. Wir haben beziehungsweise bearbeiten alle einen Garten und versuchen, uns mit der jeweiligen Ernte gegenseitig zu übertrumpfen. Hierbei wird auch Sprach- und Zündstoff für die nächste monatliche Zusammenkunft mit geerntet. Wir haben alle ein schönes Fahrrad und können so unsere engere und auch etwas entferntere Heimat neu kennen lernen. In unmittelbarer Nähe unserer Heimat hat die Rheinbraun das sogenannte Elsbachtal neu entstehen lassen, woran sich die Gustorfer Höhe anschließt. Wenn man dieses Gebiet durchfährt, hat man schnell 15 Km. auf dem Tachometer. Fahrten an der Erft entlang, entweder nach Bergheim oder nach Grimlinghausen sind auch keine Seltenheit.

Auch unternehmen wir schon mal Busfahrten wie z.B. zum Eisstadion nach Grefrath bei Krefeld. Das sind alles herrliche Erlebnisse, die nicht sehr teuer sind, aber von allen gerne und mit Freude akzeptiert werden. Ebenso fahren wir einmal in den Muschelmonaten mit der ganzen Gesellschaft nach Gubberath zum Muschelessen und ebenfalls wenigstens jährlich einmal nach Rath, um dort ein Schlachtfestessen zu genießen. Wie gesagt, das sind alles Freuden des kleinen Mannes, wo das Gesellige dem Finanziellen überwiegt. Früher fehlten uns die Mittel, um an Darbietungen gleich welcher Art teilzunehmen und heute, wo der Pfennig nicht mehr so oft umgedreht wird, bekommt der eine Einhalt geboten wegen seines Körpergewichtes, der andere verfügt über zu viel Cholesterin und der Nächste kann wegen Bluthochdruck kein Bier mehr vertragen.

Der Jahrgang 1927 hat auch mehrere Schülertreffen veranstaltet. Das erste Treffen dieser Art kam im Jahre 1977, als wir größtenteils 50 Jahre alt wurden, zum Zuge. Erich Loers hatte die ersten Schritte unternommen und damit auch eine Arbeit auf sich genommen, die mit vielen Dankesworten zwar honoriert wurde, aber solange er lebte auf seinem Rücken hängen blieb.

Es erging uns genauso wie vielen Jahrgängen vor uns, einige Plätze blieben leer, weil auch unsere Klasse noch Blutzoll im sinnlosen Krieg hat leisten müssen. Zwei unserer ehemaligen Klassenkameraden hatten durchaus kein Verständnis für das, was wir anderen alle schön und schnellstens wiederholungswürdig hielten. Wir haben beim ersten Klassentreffen sehr viel Freude bekommen, hatten wir uns doch zum Teil über 30 Jahre nicht mehr gesehen. Es war sehr erfreulich festzustellen, daß aus uns normalen Volksschülern doch alles brauchbare Menschen geworden waren. Dem einen waren die 50 Jahre etwas mehr als dem anderen anzusehen, aber jeder war noch gut zu erkennen.

Leider wurde unser Haufen von Klassentreffen zu Klassentreffen, welches wir im Fünfjahresrhythmus  abhielten, immer kleiner. Zur Zeit kommt der Rest der Klasse jedes Jahr um die Weihnachtszeit irgendwo in Grevenbroich zusammen. Es werden dann vor wie nach die alten Erlebnisse aufgetischt und aufgefrischt. Des einen Erinnerungsvermögen ist etwas besser als das des anderen, aber uns ist das Alter allen anzusehen. Auch haben schon einige von uns die Goldhochzeit gefeiert oder stehen kurz davor. Bei der Schulentlassung bestand unsere Klasse aus 14 Mädchen und auch 14 Jungen. Zum ersten Klassentreffen erschienen 11 Mädchen und 10 Jungen. Wenn wir bei unseren derzeitigen Zusammenkünften noch 12 bis 13 Leute zusammen bekommen, sind wir glücklich. Auch unsere Klasse ist von Krankheit und Tod nicht verschont geblieben. Nun möchte ich auch langsam zum Schluß meiner Erinnerungen kommen, ich will zwar noch nicht sterben, aber mit 72 Jahren wird man ja auch nicht mehr so viel erleben, was unbedingt anderen vermittelt werden muß. Mein Leben habe ich gerne gelebt und obwohl ich nie über Reichtümer verfügt habe, war ich mein Leben lang immer zufrieden und habe keinen Neid gekannt. Zufriedenheit wünsche ich auch jedem, der irgendwann einmal meine Erinnerungen liest.