Ja, mein Heimatort Orken war schon ein schönes Dorf. Wir hatten an
Vereinen so gut wie alles, was es so gab. Es gab zwei Säle im Dorf und zwar den Saal
Esser im unteren Bereich des Dorfes, und auf der Düsseldorfer Straße hatte die
Gaststätte Charge einen schönen Saal.
Es war ohne weiteres möglich, Konzerte, Theateraufführungen,
Turnfeste und Musikveranstaltungen im Dorf zu feiern. Auch auf Kirmes brauchte kein Zelt
aufgestellt werden, denn der ganze Schützenzug fand in den Sälen genügend Platz.
In Orken gab es damals einen Radsportverein, der seines Gleichen
suchte. Was unsere Radsportler damals auf ihren Sport- oder Kunsträdern boten, ist mir
selbst in der heutigen Zeit per Fernseher kaum geboten worden.
Auch war der Theaterverein einsame Klasse. Ich kann mich noch
erinnern, daß in den Wintermonaten die Vorführungen stets gut besucht waren. Wir hatten
außer den schon beschriebenen Vereinen noch den MGV-Liederkranz, den Turnverein, das
Tambourcorps sowie eine erstklassige Blaskapelle.
Der 1911 gegründete Fußballclub war zu unserer Zeit ruhend
gemeldet, wofür man auch hauptsächlich Grevenbroich verantwortlich machte. Es war jedoch
ein intakter Sportplatz vorhanden, welcher einen Umkleideraum (alter Güterwagen) hatte,
und dieser stand dem Turnverein auch zur Verfügung.
Das Vereinsleben in unserer kleinen Ortschaft war also, wenn man
jetzt noch die kirchlichen Vereine mitzählt, sehr rege.
Genau so gut gab es in Orken eine ganze Reihe von - sagen wir ruhig
- Originalen.
Ich fange bei Ratze Hennes, Schlaven Johann an. Er lebte nach dem
Motto: Schnaps das war sein letztes Wort. In seiner Nachbarschaft gab es Lemme Puckel,
welcher der Arbeit nicht sehr zugetan war, aber alle Gaststätten als sein Zuhause ansah.
Es gab auf der Schulstraße Futze Paul (Paul Küppers). Herr
Küppers hatte ein steifes Bein, war in einer Neusser Fabrik, ich glaube bei Schieß,
Prokurist, und kam täglich wie aus dem Ei gepellt, wenn er zum Bahnhof ging. Er trug
grundsätzlich einen steifen Hut, weißes Hemd und Fliege. Ich hab ihn als Kind nur als
hochvornehmen Herrn gekannt. Nachdem ich aber einige Zeit mit ihm zusammen nach Neuss fuhr
und seine Aussprache, besser gesagt, Ausfälle, öfters anhören mußte, war ich sehr
enttäuscht über diesen angeblich feinen Herrn.
Es gab noch Ochsen Heinrich welcher bei dem Landwirt Johann Lepper
mit dem Ochsengespann arbeitete, und uns Kindern selbstverfaßte Märchen erzählte, wo
man mit den Fingern die Unwahrheit fühlen konnte. Ich möchte Frisch-Weckchen noch
erwähnen. Er hatte seinen Namen bekommen, weil er immer ein frisches Weckchen haben
wollte, und legte nebenbei bemerkt ein regelrecht weibisches Benehmen an den Tag. Frisch
Weckchen war zwar ursprünglich verheiratet, soll aber eine sogenannte Josephsehe geführt
haben, bevor er sich von seiner Partnerin wieder getrennt hat.
Es wäre eine Todsünde, die Herren Sälesch Schnieder, seinen
richtigen Namen kenne ich gar nicht, und Mobbi Matthes (Matthias Fußangel) zu vergessen.
Sälesch Schnieder (Schneider) ging recht und schlecht seinem Handwerk nach, er hatte vor
seinem Haus einen uralten Pumpenbrunnen, wo über Seilwinde auch zu dieser Zeit noch
Wasser aus der Tiefe geholt wurde. Man machte das Türchen an einem nach Hexenhaus
aussehenden Brunnenhäuschen auf, um sich dann mit der Technik (ein Holzeimer am Seil,
eine Achse aus Holz worauf sich das Seil auf- und abrollte und ein Schwengel) vertraut zu
machen. Wir hatten vor dem Schneider große Angst, weil uns gesagt wurde, der wirft die
Kinder alle in den tiefen Brunnen.
Mobbi Matthes hingegen war Alteisen- und Lumpenhändler. Er
verkaufte außerdem sämtliche Tabakwaren und ist wohl wegen der guten Mobbi-Zigarre zu
seinem Namen gekommen. Er war ein ziemlich gemütlicher Mann, der keine Stiele bei der
Arbeit zerbrach. Bei ihm konnte man auch Trockenfarben kaufen. Zu dieser Zeit hatten die
kleinen Leute noch keine Tapeten in ihren Zimmern, es gab Löschkalk, davon wurde ein
Eimer beim Pick geholt, und damit wurden die Farben gemischt. Ebenfalls Wäscheblau, man
brauchte es, wenn die Wäsche aufgespült wurde und auch, wenn eine Zimmerdecke gestrichen
wurde um dem weißen Kalk einen Blauschimmer zu geben. Mobbi war vielseitig und
großzügig in seinen Geschäftsmanieren, er verlangte einmal Höchstpreise und
verschenkte beim nächsten Einkauf die Hälfte.
Der Krieg nahm langsam an Heftigkeit zu, der Polenfeldzug war lange
erledigt. Im Westen war eine enorme Macht aufmarschiert, und es war bald an 10 Fingern
abzuzählen, wann der gesamte westliche Block kapitulieren würde.
Es gab zwar fast jede Nacht Fliegeralarm, aber an Flugzeugen war
außer der sogenannten Tante Emma kaum etwas zu hören, geschweige denn zu sehen. Für uns
Kinder waren z.B. die Beutepferde aus Polen, die zu Dutzenden auf den Weiden am
Fußballplatz liefen und andere Beuteware sehr interessant.
Auch bekamen wir Gelegenheit, uns den Fremdsprachen polnisch und
französisch zuzuwenden. Die gefangenen Polen wurden alle hier im Westen in der
Landwirtschaft untergebracht, wogegen Franzosen, Belgier und Engländer mehr ins mittlere
Deutschland, vor allem aber rechtsrheinisch, untergebracht wurden.
Die Sympathien für den Führer wuchsen von Sieg zu Sieg und die
Opposition konnte kaum noch irgendwo ungestört ein Wort wechseln.
Bei Dohme (Hennen) Leo, er war deutscher Bauer mit Pferdezucht, war
ich wie zu Hause. Die Tiere, aber auch die Arbeit im Feld mit den Pferden, haben mir immer
viel Freude gemacht. Eines Tages hatte Leo Stroh nötig, welches im Feld in einer Miete
gehalten wurde. Die Karre wurde nahe an den Strohschober gefahren, Leo kletterte auf den
Strohschober und ich sollte die Karre laden. Beim ersten Ballen Stroh, den Leo anpackte,
kam der Kopf eines französischen Kriegsgefangenen heraus und Leo brachte den irgendwo
entlaufenen Gefangenen, mit einer Schoßgabel als Waffe, zur Polizei.
Mir ist noch gut in Erinnerung, als Leo seiner Frau Drück (Gertrud)
eine neue elektrische Waschmaschine gekauft hatte. Zu dieser Zeit waren Waschmaschinen,
die mit der Hand betrieben wurden oder mit Wassermotor eine Errungenschaft.
Ich bekam den Auftrag, die Stute Flora einzuspannen und zum Kox
(Schmiede) zu fahren, um die neue Waschmaschine abzuholen. Ich bekam noch den
ausdrücklichen Befehl über die Polifei auf der Düsseldorfer Str. zu fahren.
So sahen nämlich ca. 10 Bauern, was Leo angeschafft hatte, wogegen der Weg über die
Kirchstraße zwar bedeutend näher ist, aber die bäuerlichen Betrachter wären gut um die
Hälfte weniger gewesen.
Es war wieder mal soweit, daß eine neue Einheit an Soldaten in
Orken ihr Quartier finden sollten. Nachdem wir schon Infanterie und Panzerabwehr hatten,
sollte jetzt eine Veterinärkompanie bei uns Obdach finden.
Die Offiziere, zusammen mit unserem damaligen Dorfpolizisten, Herrn
Lüngen, gingen die Häuser ab und sahen, wo was unterzubringen war. Wir Jungen klebten
den Herren natürlich an den Stiefeln, um soviel wie möglich aus erster Hand zu erfahren.
Es ist einfach nicht zu vergessen, Flöhne Tinni kam sehr aufgeregt
an, und machte den Quartiermachern klar, daß sie auf dem neu tapezierten Zimmer aber
gerne einen Öbersten
hätte. Bei uns wurde der Schuppen als Pferdestall umfunktioniert und wir hatten außer
dem Schützen Herbert Woida noch 3 Pferde einquartiert. Herbert Woida wurde übrigens vom
Pferd getreten, hatte eine sehr komplizierte Verletzung und blieb dadurch monatelang unser
Quartiergast.
Vater und Sohn auf
Wehrmachtspferden vor dem improvisierten Pferdestall
Er ließ dann mit Einwilligung meiner Eltern seine Frau nachkommen.
Hierzu muß ich noch sagen, daß die Eheleute Woida nette Leute aus Oberschlesien waren,
aber im Lesen und Schreiben, sowie im rheinischen Milieu, wie Ausländer wirkten.
Auch bleibt mir unvergessen, daß auf dem Elfgener Fußballplatz
einmal 2 Soldaten erschossen wurden. Sie gehörten dem Bataillon der Panzerabwehr an und
waren angeblich nicht zurück zur Einheit gekommen. Zu dieser Zeit hatten wir die Soldaten
Ernst Keil und Rudi Tögel einquartiert. Die Einheit bestand zur Hälfte aus
Sudetendeutschen und unser R.Tögel, dessen Kamerad Heinz Flassack auch in Urlaub und
schon 2 Tage über die Zeit war, stand Todesängste aus. Aber Heinz Flassack, der
übrigens später in Orken seßhaft wurde, hatte alles bescheinigt, was ihn eventuell
hätte in Schwierigkeiten bringen können.
So ging die Zeit, und damit auch die Schulzeit langsam dahin. Der
Krieg nahm an Härte zu. Die anglo-amerikanische Luftwaffe wurde von Monat zu Monat
frecher. Es war jetzt so weit, daß auch schon mal Bomben fielen. Eines Nachts wurden wir
mit den ersten Brand- und Phosphorbomben überrascht.
Dabei ging die ehemalige Papierfabrik, die das Papier aus Stroh
fertigte, in Flammen auf. Auf dem Gelände der früheren Zuckerfabrik und der späteren
Grönland-Konserven lagerten enorme Mengen an Stroh, die dann alle den Flammen zum Opfer
fielen. Es war wirklich ein Wunder, daß die Elsener Kirche damals in etwa verschont
blieb.
Wie mögen wohl die Propagandaartikel in England zu dieser
Feuersbrunst über unsere Ortschaften gelautet haben? Auch fiel hier und da schon mal eine
Sprengbombe. Ebenfalls kamen die ersten Gefallenenmeldungen in unserer Gemeinde an. Das
Volk wurde allmählich ruhiger, trotz aller Siege.
Mein Vater wollte dort, wo wir eine Toreinfahrt hatten, einen
Luftschutzkeller für unsere Straße errichten lassen. Dazu bekam er keine Genehmigung. Er
konnte dann aber einen Keller mit starker Decke und dicken Mauern bauen. Unsere Familie
war immer im Nachbarhaus in den Keller gegangen, dort blieben später bei einem
Luftangriff 5 Leute tot. Unser Führer und auch Hermann Göring, der Luftmarschall, hatten
ja mehrmals beteuert, kein feindliches Flugzeug wird jemals unsere Grenzen überfliegen,
als dann aber Tag für Tag und Nacht für Nacht englische Flugzeuge am Himmel aufkreuzten,
kamen selbst dem einen oder anderen Parteigenossen die ersten Zweifel.
Mein Schulkamerad Friedel Bell und ich, wir waren beide ziemlich
musikalisch, gingen meistens pfeifend, natürlich im Gleichschritt, durchs Dorf.
Natürlich hatten wir immer die neusten Marschlieder auf den Lippen. Melodien und Texte
waren derart aufeinander abgestimmt, daß in unseren jungen Köpfen eine gewisse
Begeisterung nicht ausblieb. So marschierten wir auch eines Abends über die
Richard-Wagner-Straße, wo Schuhmachers Hubert (der Sohn von Pitternelle Hupet) als
verwundeter Soldat an der Haustüre stand. Als er uns sah und hörte, sagte er folgendes:
Ihr Beide marschiert ja schon wie alte Soldaten, aber beruhigt euch, ihr werdet
nämlich in diesem Krieg auch noch Soldat. Wir haben Hubert damals ausgelacht, waren
wir doch zu dieser Zeit Jungen von 13 Jahren, aber er hatte als Soldat wohl mehr Einblick
und ahnte schon, was uns noch alles bevorstand. Diese Begebenheit wurde nach dem Krieg
natürlich manchmal zum Besten gegeben.
Ich muß endlich einmal beteuern, daß all das bisher
Niedergeschriebene meiner Erinnerung, die noch gut funktioniert, und somit der Wahrheit
entspricht.
Der Krieg verlief für uns Kinder von Tag zu Tag dramatischer. Wir
mußten Arbeiten übernehmen die sonst von Erwachsenen geleistet wurden. Die Landwirte,
die nicht Soldat waren, waren auf unsere und auf die Hilfe von Frauen und Gefangenen
angewiesen.
Wir waren damals stolz auf unsere Wehrmacht, die weit in Feindesland
stand, und unsere Marine beherrschte sozusagen die Weltmeere. Täglich kamen
Sondermeldungen von Eroberungen oder Schiffsversenkungen. Die Stundenzahl sowie die
Lehrfächer in unserer Schule ließen zu der Zeit sehr zu wünschen übrig, was uns
Kindern noch nicht einmal unrecht war. Wir gingen so langsam der Schulentlassung entgegen,
wenn wir nicht im Feld arbeiten mußten, kam unsere Freizeit zur Geltung.
Es gab auch damals schon Roll- und Schlittschuhe, aber nur
vereinzelt. Hauptsächlich kamen Spiele wie Räuber und Schandarm (Gendarm), Völkerball,
Fußball und Pinnchen kloppen in Betracht. In den Herbst- und Wintermonaten hat man sich
auch üble Scherze erlaubt. Es konnte passieren, daß einer sein Gartentörchen drei
Häuser weiter suchen mußte, oder daß die Fensterläden ausgehängt bzw. umgekehrt
eingehängt waren. Ich erinnere mich noch, daß kurz vor unserer Schulentlassung die
Geldbörse am Faden aktuell wurde.
Wir saßen bei Schumacher (Pitternelle) auf dem (Dürpel)
Hauseingangsstein und hatten das Portemonnaie 30 Meter weiter in der Gosse liegen. Einmal
kam Schlippers Baas (ein ziemlich dicker Bauer) mit 2 Fahrrädern, wovon eines zur
Reparatur zum Fahrradschlosser Körfgen gebracht werden sollte. Man stelle sich vor, der
dicke Bauer steigt vom Fahrrad, legt das zweite Fahrrad hin, vergewissert sich nach links
und rechts ob keiner zusieht, bückt sich zum Portemonnaie und stellt dann fest, daß man
ihn mal so richtig reingelegt hatte. Auch der Kohlenhändler Floh viel auf unseren Trick
rein. Er kam mit seinem Bob-Traktor mit Hänger und blieb so stehen, daß jeder annehmen
mußte, er würde an der Anhängerkupplung etwas regulieren. Wir hatten Glück, daß
unsere Kordel nicht von einem Reifen blockiert wurde, darum war der Effekt um so schöner.
Der Kohlenhändler stieg mit hochrotem Kopf wieder ein und verschwand, so schnell sein Bob
es zuließ.
Das Gleiche erlaubte ich mir in den ersten Tagen meiner Lehrzeit.
Eine Autogarage mit Rolladentor, welches tagsüber immer bis auf ca. 50 cm über dem
Erdboden heruntergelassen war, lud mich regelrecht dazu ein, das Spiel mit der Geldbörse
aufzuführen.
Als das Mittagssignal um 12.30 Uhr ertönte, stand ich schon mit
meinen Utensilien bereit, um als Erster die Stempeluhr zu betätigen und dann in Stellung
zu gehen. Wie gesagt so getan; ich hatte kaum das Portemonnaie ausgelegt, als sich auch
schon Schritte näherten, ich sah nur schöne braune Schuhe, mit bester Bügelfalte
versehene Hosenbeine und die Hand, die nach der Börse griff. Am liebsten wäre ich in den
Erdboden versunken, denn ich wußte im gleichen Moment, daß ich unseren Chef, den Herrn
Pit van Endert, genarrt hatte. Das anschließende Donnerwetter brauch' ich wohl nicht zu
beschreiben.
Es war doch etwas tröstlich für mich, von dem Portier Herrn
Ingmann zu hören, daß der Chef geschmunzelt hatte mit der Bemerkung: Die Burschen
sind doch nicht einen Deut besser als wir früher.
Und somit bin ich schon mit der Erzählung in meinem nächsten
Lebensabschnitt.
In unserer Jugend mußten Jungen so gut wie Mädchen ein Land- oder
Pflichtjahr leisten. Die Jungen wurden meistens bei Bauern, und die Mädchen in
kinderreichen Familien untergebracht. Es war allerdings so, daß wir Jungen teilweise
schon mit 17 Jahren eingezogen wurden und somit die Lehre nicht zum Abschluß bringen
konnten. Weil ich sowieso ständig beim Bauer war, hatten wir einen Antrag gestellt, auch
ohne Landjahr eine Lehre antreten zu können, was dann auch genehmigt wurde.
Ich wollte gerne eine kaufmännische Lehre absolvieren und wurde
durch das Arbeitsamt an die Firma Rud van Endert in Neuss vermittelt. Die Firma Van Endert
hat in mir, nehme ich an, einen guten Lehrjungen bekommen, aber ich darf behaupten, eine
erstklassige Lehrstelle mit allerbesten Lehrherren gehabt zu haben. Meine Lehre ist mir im
ganzen Leben, gleich wo ich war oder was ich anfing, zugute gekommen. Ich fing um den 20.
April 1941 mit meiner Lehre an und wurde am ersten Tag von meiner Nachbarin Käthe Reibel
mitgenommen.
Es bleibt mir unvergeßlich, als ich das Haus van Endert betrat,
meine Stempelkarte erstmalig gedrückt hatte und über den Hof ging, da hörte ich wie der
Herr Buntenbach hinter mir hersagte: Do krije mer wier e Büürke. (Da
bekommen wir schon wieder einen jungen Bauern)
Heute muß ich diese Äußerung rundum bejahen. Wir Kinder vom Dorf
waren zwar ehrlich und auch gut erzogen, aber in einer Stadt wie Neuss und in einem
modernen Geschäft, wie Rud van Endert, war schon etwas mehr gefragt.
Ich stellte jedoch schnell fest, daß die meisten der
Betriebsangehörigen von den umliegenden Dörfern und kleinen Städtchen kamen. Die
Wohnorte meiner damaligen Mitstreiter erstreckten sich von Büttgen, Kaarst,
Grimlinghausen, Büderich, Krefeld-Oppum, Reuschenberg, Damm, Aldenhoven, Glehn,
Grevenbroich bis Bedburg. Es waren zu dieser Zeit um die 100 Leute bei van Endert
beschäftigt.
Der Herr Buntenbach ist für mich einer der ganz wenigen Leute, wo
ich mich nicht gerne dran erinnere. Er war sehr dick und auch faul, war Parteigenosse und
hatte als Fahrer des Chefs bei den Lehrmädchen- und Jungen ein bißchen falsche
Autorität ergattert. Keiner mochte ihn, aber alle hatten Angst, mit ihm anzuecken,
kurzum, er war ein fieser Charakter.
Andererseits war die ganze Atmosphäre im Hause van Endert von
erstklassiger menschlicher Qualität. Auf jedem Kassenzettel stand die Aufschrift: Waren Sie mit ihrem Einkauf zufrieden, sagen Sie es
bitte anderen, waren Sie es nicht, kommen Sie bitte zu mir. Nach diesem Leitsatz
wickelte sich von A bis Z das ganze Geschäftsgebaren ab.
Mein erster Lehrmeister war der Herr Wessig, ein altgedienter
Kaufmann, etwas füllig in der Figur, gemütlich im Wesen, aber hellwach bei der Arbeit.
Die Abteilung zählte mit zur Registratur.
Uns gegenüber saß der Herr Spelter. Er zählte zwar auch zur
Registratur, hatte aber seinen separaten Aufgabenbereich. Herr Spelter hatte eine
besonders schöne Handschrift, man konnte auch von Kunstschrift sprechen. Er beschrieb die
alten Geschäftsbücher mit Protokollen. Ich bekam diese Bücher gar nicht in die Finger,
sie waren Herrn Spelters Allerheiligstes. Außerdem befand sich in dem ziemlich großen
Büroraum noch die Telefonzentrale, besetzt von Fräulein Liesel Weyers. Fräulein Weyers
war eine liebe Person, die jedem mit Rat und Tat zur Verfügung stand.
In dieser Abteilung sollten sich eigentlich die ersten drei Monate
meiner Lehrzeit abspielen, aber es kam etwas anders. Ich war gut 1 ½ Monate in diesem
Büro, als ich auf die 3. Etage versetzt wurde.
Zuerst muß ich aber noch über eine Sache berichten, die sich
während der Zeit, in der ich in der Registratur arbeitete, zutrug. Das alltägliche
Zugfahren war für uns Burschen natürlich etwas Neues. Es wurde alles ausprobiert, was es
eben gab. Der Schaffnersprung z.B. war uns schon geläufig. Ich landete einmal in den
Armen eines Aufsichtsbeamten, konnte mich aber noch verdünnisieren.
Nun stand eine Wette zur Debatte, während der Fahrt aus einem
Abteil raus zu gehen und über das Trittbrett ins nächste wieder einzusteigen. Ich hatte
das Pech, von einem Beamten des Schrankenwärterhäuschens zwischen Kapellen und Holzheim
gesehen zu werden, und prompt hielt der Zug auf freier Strecke an und ich wurde vom
Zugführer protokolliert. Die Begrüßung des Zugführers war niederschmetternd, er
meinte, wenn Ihr Euren Eltern so das Geld aus der Tasche holt, dieser Zugstopp kostet
wenigstens 100 Mark.
Ich war gerade beim Frühstücken im Aufenthaltsraum, als Gerta
Leuchtenberg mich holen kam. Sie sagte nur: Die Bahn hat angerufen, du wirst eine
dicke Zigarre bekommen. Unsere Büros waren bis Brusthöhe in Holz und bis zur Decke
dann mit Holzrahmen und Glas gefertigt. Als meine Lehrherren mich kommen hörten, ging das
Gewitter los. Ich mußte eine Kanonade vom großen Flegel bis zum Bauernflegel und noch
einiges mehr über mich ergehen lassen. Letztendlich war dieser Anpfiff ja berechtigt,
außerdem hatte ich meine Vorgesetzten zutiefst enttäuscht, weil ich bis dahin ja ein
emsiger und braver Lehrjunge war.
Im Nachhinein erfuhr ich dann, daß der Herr Spelter und der
Bahnhofsvorsteher alte Bekannte waren und die Geldstrafe daraufhin abgewendet wurde. Von
diesem Tag an war ich der ruhigste und beste Fahrgast der Deutschen Reichsbahn. Ich habe
mich von allen Streichen im Zug und auf den Bahnsteigen ferngehalten und bin dankbar
gewesen, daß die Angelegenheit so ausging.
Daß ich aber nicht allein mit Flegeleien behaftet war, sagte mir
meine Versetzung auf die 3. Etage. Dort hatte ein Lehrling namens Quickstedt seine Lehre
begonnen und war schon einige Male unangenehm aufgefallen.
Auf der dritten Etage befand sich der Einkauf, wozu auch der gesamte
Paketeingang, sowie das Verpacken der Pakete gehörte. Allmorgendlich mußte der Lehrling
mit dem Packer bei der Paketpost die Pakete abholen. Hierfür gab es einen großen
vierrädrigen Wagen. Es kam oft vor, daß wir zwei oder auch drei mal zur Post mußten, um
die eingehende Ware auch zeitig zur Auszeichnung oben zu haben. Ebenfalls mußte die
Briefpost abgeholt werden.
Hierbei war der Lehrling Quickstedt einige Male aufgefallen. Er ging
zur Post und gab sich dort ans Kartenspielen. Der Poststellenleiter rief dann die Firma
van Endert an und erkundigte sich, ob der Lehrjunge nicht gebraucht würde. Nachdem
Quickstedt zwei mal strengstens verwarnt wurde und dann wegen der gleichen Angelegenheit
wieder auffiel, wurde er vom Herrn Steffens nach Hause geschickt.
Tags drauf kam die Mutter weinend und bat, ihren Sohn doch wieder zu
nehmen, da Herr Steffens ihn nicht mehr wollte, kam für mich die vorzeitige Versetzung in
den Einkauf.
Man stelle sich vor; ich komme eines Morgens ins Büro, will wie
gewohnt Schreibtische und anderes Mobilar Staub putzen, da wird mir gesagt: Du bist
nicht mehr bei uns, gehe nach oben zum Herrn Steffens, der wird dir die richtigen
Flötentöne beibringen. Dies war für mich ein derart niederschmetternder
Morgengruß, daß ich erst einmal in unseren Umkleideraum ging, ein paar Tränen abwischte
und ursprünglich nach Hause fahren wollte. Der Herr Steffens war wie ein Gott in drei
Personen, er verfügte bei van Endert über eine Autorität, wie ich es nie mehr erlebt
habe. Er war groß und breitschultrig und hatte eine sonore Stimme, er wurde von den
Herren Pit und Robert van Endert mit Onkel Philipp angesprochen. Ich wollte nun doch nicht
als Feigling gelten, und trat mit stark klopfendem Herzen den Weg zur dritten Etage an.
Zum Vorstellen kam ich nicht, Herr Steffens schaute auf seine Uhr und fragte, ob ich der
Anfangszeit wegen Beamter sei? Dann ging es weiter, wie heißt du? Ich sagte
Hans Moll, darauf Herr Steffens: wir haben einen Hans und wir haben einen
Johann, dann schallend über die ganze Etage: wie nennen wir den Jungen?
Fräulein Koch darauf: Herr Steffens, wollen wir ihn nicht Philipp nennen? Wer
mir den Namen gab, müßte heute noch ins Gefängnis. Herr Steffens verwandte sehr viel
Neusser Platt, woran man merkte, daß er ein alter Neusser war und auch mit einem
breitgefächerten Publikum zu tun hatte.
Als er von mir erfuhr, daß ich aus Orken, Pfarre Elsen kam,
erinnerte er sich daran, daß er die Ortschaften durchfuhr, als die Elsener Kirche
brannte.
Damals war ich schon stolz, ein Neusser zu sein als ich sah, daß
die Bauernfeuerwehr weder Schläuche noch Wasser genug hatten und erst die
Neusser Wehr den Brand richtig bekämpfen konnte. Bei diesem ersten Gespräch bekam ich
auch die strikte Anweisung, mich nicht von seinem Tisch zu entfernen, und mich von den
anderen Damen und Herren fernzuhalten, was natürlich unmöglich war.
Zu dieser Zeit waren noch der Herr Nabben, Hans Tillmann, Johann
Schnock als Packer und einige Damen auf unserer Etage beschäftigt. Auch hatte der Herr
Pit van Endert sein Büro auf der dritten Etage. Trotzdem hatte ich stets den Eindruck,
daß unser Herr Steffens auf unserer Etage, sowie im ganzen Haus, der Allmächtige war.
Einmal hatte ich das Licht auf der Toilette brennen lassen, er ging
als nächster dorthin und schon war ich der Sohn reicher Eltern, der es nicht nötig
fände, den Lichtschalter zu bedienen. Ein andermal mußte ich von einem Ballen Inlett
25,00 Meter abschneiden, Herr Steffens kontrollierte meine Arbeit und stellte fest, daß
ich zu gut zur Kundschaft sei (es waren 10 cm zu viel gemessen) und mit solcher
Großzügigkeit nicht weit kommen könnte. Die von ihm ausgehende Sparsamkeit, Korrektheit
und Geradlinigkeit ist mir ein Leben lang Vorbild gewesen.
Leider blieb mein Lehrbetrieb vom Krieg auch nicht verschont. Die
Luftangriffe auf Deutschland nahmen von Monat zu Monat zu. Auch bei van Endert wurde eine
Luftschutzgruppe organisiert. Herr Wessig wurde Luftschutzwart und war für Löschmaterial
sowie für Gasmasken, Helme und Anzüge verantwortlich. Als wir bei einem der ersten
Fliegeralarme in den Keller mußten, fehlte einigen Leuten noch der Luftschutzhelm.
Herr Wessig war dabei, die fehlenden Sachen zu notieren und fragte
Hans Krahwinkel, welche Kopfweite er habe, Krahwinkel darauf: ich habe Schuhgröße
42. Ich weiß nicht ob das anschließende Lachen oder die dumme Antwort Herrn Wessig
die Zornesröte ins Gesicht trieb, jedenfalls hatte der Dekorateur Krahwinkel bei Herrn
Wessig seinen Kaffee auf.
Ich war zu dieser Zeit täglich von 7.30 Uhr bis ca. 20.00 Uhr
unterwegs und konnte deshalb den Aufforderungen der HJ (Hitlerjugend) zum Dienst zu
erscheinen, nicht nachkommen. Eines Tages wurde ich ins Chefbüro gerufen, wo ein
Beschwerdebrief der HJ eingegangen war. Der Chef hatte den Brief für mich gut sichtbar
vor sich liegen, so daß ich zu meiner Genugtuung einige rot markierte Fehler sehen
mußte.
Herr van Endert war den Nazis so zugetan, wie ich es von zu Hause
gewohnt war. Er ließ für mich eine Entschuldigung schreiben und ich wurde lange Zeit von
der HJ in Ruhe gelassen.
Als ich nach 1 1/2 Jahren wieder mit Aufforderungen überhäuft
wurde, entschied ich mich für die Feuerwehr HJ, wo überwiegend Gleichgesinnte ihren
Dienst leisteten. Zu dieser Zeit wußte natürlich keiner, was Dienstleistung in der
Feuerwehr HJ bedeuten würde. Der Bombenkrieg nahm von Tag zu Tag an Härte zu. In meinem
Lehrbetrieb richtete man auch rund um die Uhr Luftschutzwachen ein.
Es kam in Zukunft oft vor, daß ich zwei bis drei Tage ganz in der
Firma war. Bald hatten wir schon Löscharbeiten im Geschäft zu erledigen. Die ersten
Stab- und Phosphorbombeneinschläge setzten das Haus van Endert fast völlig in Brand. Es
gelang uns, bevor die Feuerwehr eintraf, die einzelnen Brandstellen zu löschen, so daß
außer den Durchschlägen im Dach und auf den Etagen kaum Schaden entstand.
Auch mußten wir manchmal vom Zug auf das Fahrrad umsteigen, wenn
wieder eine Sprengbombe irgendwo zwischen Düren und Neuss den Bahnkörper verunstaltet
hatte. Heute, wo alles mechanisiert und automatisiert ist, würde man es für eine
Zumutung ansehen, mit einem Fahrrad 15 Km.
zur Arbeit zu fahren.
Die dreimonatige Probezeit hatte ich nun auch schon absolviert, und
meine Arbeit machte mir viel Freude. Allein schon der Umgang mit der Kundschaft
bestätigte mir mein Interesse am Kaufmannsberuf.
Zur Lehre gehörte auch damals schon die Berufsschule. Wir mußten
die kaufmännische Berufs- und Handelsschule auf der Promenadenstr. besuchen. Ich erinnere
mich an die Lehrpersonen Dr. Simons, Herrn Oberhoffer, sowie an Frau und Herrn Keil, und
noch gut an eine Begebenheit, durch die der Unterricht für die Mittel- und Oberstufe aus
irgend einem Grund ausfiel. Die Damen und Herren Schüler gingen natürlich anstatt zur
Firma ins Kino.
Irgendeine Mutter wollte ihre Tochter in der Berufsschule
entschuldigen, bekam dort aber keinen Lehrer an die Strippe und rief darum nach van Endert
an. So kam es, daß bei Rud van Endert einige enttäuschte Abteilungsleiterinnen ihre
Lehrlinge, nachdem im Gloria Theater der Lautsprecher die Herrschaften zur Arbeit beordert
hatte, am Berufsschultag beschäftigen durften. Daß die Lehrlinge, besonders die Mädels,
bei ihren Vorgesetzten sehr geschätzt waren, besagt der Kommentar der Leiterin der
Stoffabteilung, Fräulein Vollmer, die zur Kinoaffäre sagte: Meine Käthe macht so
etwas nicht. Es war halt so, daß sich keiner der Lehrlinge ausschließen mochte, um
nicht als Feigling da zu stehen. Trotzdem hatten die jungen Herrschaften ihre
Vorgesetzten, und das waren Damen im gesegneten Alter, die selbst wohl kaum einmal im Kino
waren, schwer enttäuscht. Ob es Fräulein Laufenberg war, welche die Weißwarenabteilung
führte, oder Fräulein Flören, die mir immer wie eine Gouvernante vorkam, straften ihre
Lehrlinge mit Verachtung, und es dauerte lange, bis die alte Herzlichkeit wieder Einkehr
gehalten hatte.
Ich selbst habe noch mal einen bösen Streich inszeniert, womit ich
meinem Abteilungsleiter Herrn Steffens einen furchtbaren Schreck versetzt habe. Dabei war
die Planung eher auf einen harmlosen Scherz aus. Es war an einem sehr neblig trüben
Novembermorgen, als ich Herrn Steffens beim Beladen seines Opel P4 helfen mußte, er
wollte irgend ein Kloster oder Krankenhaus im Köln Bonner Raum beliefern. Ich wünschte
gute Fahrt, bekam von ihm noch ein par Verhaltensregeln, wie ich mich während seiner
Abwesenheit zu benehmen hätte eingeprägt, und ging dann auf die dritte Etage an meine
Abteilung.
Als ich die Türe der dritten Etage hinter mir zumachen wollte,
stand die komplette Abteilung bereit, um mir einen Denkzettel zu verpassen. Man schnappte
mich, legte mich auf den Packtisch und schnürte mich mit dicker Kordel, wie ein Paket,
zusammen. Herr Nabben meinte noch, wenn du nicht bei uns sein darfst, so wollen wir dich
einfach an uns fesseln und wenn du schreien solltest oder dem Herrn Steffens etwas
erzählst, geht das demnächst immer so.
Ich lag gut verschnürt, wie ein Häufchen Elend auf dem Packtisch,
die anderen hatten ihren Spaß und die Damen kicherten und spöttelten herum. Dann kam mir
plötzlich der rettende Gedanke. Ich bat meine Kollegen, mich loszulassen und dann in
einen Camelia-Karton zu verpacken, um Heini, dem Aufzugfahrer, dann auf der Fahrt ins
Souterrain einen Schrecken zu verpassen. Die Damen und Herren beschlossen allerdings, erst
nach der Kaffeepause meiner Bitte nachzukommen.
Ich wurde von den Fesseln befreit, durfte in den Camelia-Karton
steigen, der obere Deckel wurde zugeklebt, das Ganze auf die Sackkarre gestellt und an,
bzw. in den Aufzug gefahren. Ich hörte noch, wie der Herr Nabben sagte: Heinrich
stell dieses Paket im Souterrain vor meinen Raum.
Nun überschlugen sich die Ereignisse. Es konnte ja niemand wissen,
daß Herr Steffens wegen des starken Nebels wieder zurückgekommen war. Jedenfalls
klingelte während meiner Blindfahrt die Aufzugsklingel. Heinrich fuhr natürlich dort an,
wo es klingelte, Herr Steffens trat ein, machte eine Bemerkung über das schlechte Wetter
und wollte nach oben gebracht werden. Dann erblickte er den Karton, stieß mit dem Fuß
daran und meinte: Was ist denn das?
Den Karton soll ich für Herrn Nabben unten vor dessen Raum
stellen.
Dann bitte wieder nach unten, will doch mal sehen was er
wieder gehamstert hat.
Im gleichen Moment fing der Karton an, sich zu bewegen und als ich
mit meinem Kopf durch den Deckel stieß, sah ich zwei Gestalten blaßbleich und zitternd
an der Aufzugswand stehen. Ich beteuere noch einmal, daß ich derartiges nicht gewollt
hatte und nie im Leben mehr versucht habe, einen derartigen Streich zu vollführen.
Da half keine noch so ernst gemeinte Entschuldigung, als Herr
Steffens sich etwas erholt hatte, brach das Donnerwetter über mich herein und zwar vom
Souterrain bis zur dritten Etage, in allen Variationen auf Nüsser Platt und bestem
Hochdeutsch und das über die Treppen bei Kundenbetrieb, bis ins Zimmer des Herrn Pit van
Endert.
Nachdem Herr Steffens sich halbwegs beruhigt hatte und ich mich noch
mal nachhaltig entschuldigt hatte, meinte Herr van Endert: Daß du eine Pflaume
warst, habe ich damals mit dem Portemonnaie an der Kordel-Trick schon gewußt, aber stell
dir vor, der Onkel Philipp hätte einen Herzschlag bekommen.
Ich habe diese Flegelei während meiner Lehrzeit noch manchmal
vorgehalten bekommen und wenn irgend ein Kunde mal meine guten Seiten ansprach, tischte
Herr Steffens natürlich den bösen Streich auf. Allerdings merkte ich, daß auch er
langsam Gras über die Sache wachsen ließ.
Trotzdem ging ich täglich gerne zur Arbeit. Ich ging lieber 3 Tage
ins Geschäft, als 1 Tag zur Berufsschule, obwohl auch das sein mußte. Bei van Endert gab
es soviel Abwechslung, durch die Möbelabteilung, die im Souterrain untergebracht war, gab
es eine Schreinerei und eine Polsterei.
Es waren ein 4 t LKW sowie zwei mit schönen Pferden bespannte
Lieferwagen vorhanden. Von den größtenteils netten Menschen, vor allem all die
natürlich netten Mädels, die kaum Schminke und Puder kannten, habe ich noch gar nicht
gesprochen.
Erwähnenswert waren unsere Dekorateure, welche ich hier kurz
beschreiben muß. Angeführt wurden sie von einem Herrn Funk Chefdekorateur, es folgten
Andreas Schmitz, Josef Norf, Jakob Kremer, Hans Krahwinkel, Andreas Heyers, Ernst Huster
und der Kleinste hieß Heinz mit Vornamen; er war wirklich klein und schmächtig, aber im
Musizieren ein Genie. Unsere Dekorateure waren von A bis Z nette junge Herren, sie legten
sehr viel Wert auf ihr Äußeres und fanden es auch nicht sündhaft, den dekorierten
Büsten, die in über 50 Schaufenstern verteilt standen, über das Wochenende mit der
eigenen Krawatte zu bestücken, um dann selbst sonntags mit einer neuen Krawatte zu
glänzen. Hierbei muß ich betonen, daß außer einer Krawatte oder einem Schal nie ein
Textil länger als 24 Stunden aus einem Schaufenster ausgeliehen wurde.
Eine bleibende Erinnerung für mich, besonders aber auch für noch
alle lebenden Zeitzeugen, ist folgende Begebenheit. Andreas Schmitz war Stotterer, sein
Sprachfehler war allerschwerster Art. Seine Kollegen, so sehe ich es wenigstens, müssen
ihm sehr nachgeahmt haben, denn innerhalb eines Jahres gab es kaum einen Dekorateur bei
van Endert, der nicht stotterte. An dieser Stelle muß ich des A. Schmitz wegen in meiner
Erinnerungsniederschrift einmal etwas vorgreifen.