In unserer Küche befanden sich außer dem obligatorischen Chef Tom noch einige Soldaten, wovon zwei dienstgradmäßig etwas höher standen. Dabei muß ich einflechten, daß man bei den Amerikanern kaum einen Unterschied zwischen Offizier und einfachem Soldaten wahrnehmen konnte. Ich verstand zwar nicht alles, aber hörte heraus, daß die Herren sich über Religionen unterhielten. Da die USA in allem völlige Freiheit verkörpern, und die Bevölkerung aus Einwanderern aller Herrenländer besteht, waren von den 5 Soldaten, die sich da unterhielten, 4 verschiedene Religionen festzustellen. Als nun die Herren ihre Religionsgemeinschaft dokumentiert hatten, der eine Evangelik, der andere Katholik, stellte ich mich mitten in den Raum, zog mein Lazaretthemd, welches an der Schnittstelle von Knopf- und. Knopflochrevers mit einem Hakenkreuz versehen war, aus der Hose und sagte: Ich Nazilik. Zum Glück stand ich so, daß der Fluchtweg zur Tür und nach draußen frei war. Es war ja eigentlich eine Frechheit von mir, mich den Amis gegenüber so zu opponieren, aber die hatten das, wie es auch von mir gemeint war, als einen Spaß empfunden. Trotzdem mußte ich, soweit die Füße trugen flüchten, um dann am nächsten Tag, nach einer als Schau inszenierten Verhandlung, 2 Unterhemden der US-Army überreicht zu bekommen. Heute denke ich, daß an mir mit dieser Prozedur die erste Entnazifizierung vollzogen wurde.

Nachdem ich, wie schon erwähnt, die Zeit in der Oberpfalz als schönste Erinnerung der ganzen Militärzeit im Gedächtnis hatte, war es mir leider erst in den 90er Jahren möglich, diese Gegend mal aufzusuchen. In Weiden konnte mir kaum einer sagen, wo das große Gefangenenlager war. Wöllershof, was damals Lazarettstadt und vorher Reichsfinanzschule war, kannte fast keiner. Nach langem Durchfragen, und das hauptsächlich bei älteren Herren, erfuhr ich endlich, wo und was mit Wöllershof war. Wöllershof war nämlich wieder das geworden, wofür es ursprünglich gebaut worden war. Es war ein Krankenhaus für Psychiatrie, welches wie ein Dornröschenschloß mittlerweile zugewachsen war. Ich habe mich dort mit Pförtnern und Ärzten unterhalten, aber keiner wußte etwas von einer Lazarettstadt. Anders verlief mein Besuch in Amberg. Das Zuchthaus mit den markanten Umrissen und dem großen Tor war nicht zu verfehlen. Ebenfalls die Straße zur Kaserne und die Kaserne selbst. Die jungen Zwillingsschwestern von damals habe ich aber trotz aller Anstrengung nicht ausfindig machen können.

Wir wurden nach gut sieben Wochen wieder nach Weiden ins Lager zurückgebracht, und dort langsam auf unsere Entlassung vorbereitet.

Zuerst wurden wir entlaust, dann unsere Personalien überprüft, wichtig war, in welcher Zone unsere Heimatadresse war. Es war zu dieser Zeit nur möglich, in eine der drei westlichen Zonen entlassen zu werden. Wir lagen täglich auf der Lauer, um nur nicht die Durchsagen zu verpassen. Keiner von uns hatte je damit gerechnet, 4 Monate nach Kriegsende schon aus der Gefangenschaft entlassen zu werden. Mir kam das vor, als ob die Siegermächte mit dem ganzen Verwaltungskram nichts zu tun haben wollten. Wir wurden zwar immer wieder auf SS-Zugehörigkeit überprüft, indem wir die Arme frei machen mußten, aber ansonsten wurden tatsächlich täglich zwischen 80 und 100 Gefangene entlassen.

Eines Tages, es war Anfang September, wurden auch wir zur Schreibstube beordert, und am nächsten Tag ging es dann per LKW in Richtung Hannover. Wir wurden abends in ein Lager gefahren, konnten uns da waschen und den Donnerbalken benutzen, und am nächsten Tag ging es weiter. Am späten Nachmittag wurden wir den Engländern übergeben, ich nehme an im Bereich der britischen Zone. Diese kutschierten uns noch einige Stunden, bis wir in einer alten Schule Rast machten.

Die Tommys waren mir nicht halb so sympathisch wie die Amerikaner, sie hatten, vor allem die Offiziere, Stöcke womit sie herumhantierten, und stießen damit in den Laderaum, wenn wir nicht gleich wie die Heringe in der Tonne zusammen gepreßt standen. Die Engländer sparten prompt einen LKW ein. Von Weiden bis zur britischen Zone waren wir auf 4 Lkws verteilt, die Engländer (vielleicht waren es auch Schotten) brauchten nur 3 für uns. Ich eckte gleich beim ersten Zusammentreffen mit so einem Stockstecher an. Er hatte mir nämlich in die schön verheilte Wunde gestoßen, so daß dieselbe wieder blutete. Daraufhin kletterte ich vom Wagen, was der Wachmann vereiteln wollte. Jedenfalls stand ich unten, beehrte ihn mit einigen Spezialausdrücken und stieg nicht eher auf, bis meine Verwundung neu verbunden war. Ich hatte den Leuten, so nehme ich wenigstens an, den Zeitplan durcheinander gebracht, denn der Fahrer brauste wie auf einer Rennstrecke mit uns durch die Gegend. Ich kann nur noch mal wiederholen, daß die Engländer gegenüber den Amerikanern sich für mich wie der helle Tag und die finstere Nacht unterschieden. Die Sitten und Gebräuche der anglo- amerikanischen Siegermächte sind für mich auch heute noch nicht nachahmenswert, wobei ich die Zeit in Amberg ausklammern möchte.

Die Engländer transportierten uns jedenfalls, wenn auch für uns Gefangene sehr anstrengend, bis nach Weeze am Niederrhein. Dort war auch ein riesengroßes Lager, welches aber schon hauptsächlich als Entlassungslager eingerichtet war. Als wir angekommen waren, lief fast alles wie am Fließband: Entlausen, SS-Zugehörigkeit überprüfen, Klamotten nachsehen und Entlassungspapiere vorerst in Empfang nehmen.

Den Entlassungsschein gab es erst am Tag der Abreise, welcher zum Glück nicht lange auf sich warten ließ. Nach knapp einer Woche gab es den Entlassungsschein und eine Karte für die Deutsche Reichsbahn mit der Endstation Grevenbroich. Dementsprechend mußte ja von meiner Heimat noch etwas vorhanden sein. Für die Fahrt von Weeze nach Grevenbroich brauchte ich damals 3 Tage.

Es gab keinerlei Ankündigung über meine Ankunft, weder Telefon, noch Karten und Briefe standen zu der Zeit als Kommunikationsmittel zur Verfügung. Die Strecke von Kapellen bis Grevenbroich kam mir unendlich lang vor, die Aufregung oder aber auch Neugier auf das, was mich erwartete war nicht mehr zu unterdrücken. Wo wir im Bereich des Bahnhofs damals aussteigen mußten, kann ich heute nicht mehr sagen. Es ist mir aber noch in Erinnerung, daß ein Schienenstrang, also zwei Eisenbahnschienen mit den zugehörigen Schwellen, noch ca 10 m über dem Skelett des zerstörten Bahnhofgebäudes ragten. Weder Fahrkartenkontrolle noch Ausgabe war vorhanden. Man gelangte über Stock und Stein nach draußen, was mit Straße oder Platz nichts zu tun hatte. Die Situation von damals zu Papier zu bringen ist fast nicht möglich. Die Merkatorstr., Richard-Wagner-Str., besonders aber unsere Bahnhofstraße lagen derart voll Schutt, also eingestürzten Häuser, daß nur Fußgänger die Straßen begehen oder erklimmen konnten.

Man sprach auf dem Weg natürlich hier und da mit Jemanden, plötzlich sagte man mir:„Da kommt auch dein Vater.“Der war höchstens noch 25 m von mir entfernt und ich erkannte ihn nur schwer. Mein Vater stellte ein halbes Jahr vorher noch etwas dar, jetzt war er abgemagert, und in dieser kurzen Zeit um 20 Jahre gealtert. Er nahm mich mit Tränen in den Augen in Empfang und brachte mich nach Haus. Mutter und die kleine Schwester hatten sich auch bis Orken durchgeschlagen und die ältere Schwester war beim Steineabklopfen. Mein Bruder hatte sich in Italien eine Malaria eingehandelt und lag zu dieser Zeit in einem Anfall, am ganzen Körper heiß und doch vor Kälte zitternd.

Meine Erwartungen waren mal wieder in keiner Weise erfüllt. Es gab weder etwas vernünftiges zum Essen, noch war an Kleidung oder Unterkunft etwas vorhanden. Die vorhandene Unterkunft war unser Keller, ein Raum von vielleicht 14 qm. Darin war alles untergebracht, was die Luftangriffe überstanden hatte oder unter den Trümmern unseres Hauses noch gefunden wurde. Mein Vater hatte den richtigen Riecher indem er sich sagte, ich bleibe in dem Kellerraum, weil man mir einmal dann nichts stehlen kann und ich zum anderen immer an der Arbeit bin. Die Arbeit war unser Haus. Das mußte bis auf die Mauer an der Straße von Grund an neu erstellt werden. Meine Schwester und er hatten schon einiges geleistet, als ich zurückkam. Die tragenden Wände standen fast alle bis zum Dachstuhlansatz. Für diese Arbeiten waren unsere gehamsterten Vorräte veräußert worden. Die Maurer wollten ja wenigstens etwas zu Essen haben, denn die Reichsmark war zu dieser Zeit schon wertlos. Die Maurer waren Nikolaus Lemm aus Laach und Hubert Kessel aus Gierath. Wenn die Steine, die von den beiden Maurern nach dem Krieg verbaut wurden, in einer Mauer zu sehen wären, hätte die ehemalige Berliner Mauer echte Konkurrenz bekommen. Es gab außer diesen beiden Leuten natürlich noch viele fleißige Handwerker, aber die beiden waren einmalig. Mein alter Herr war in seinem Keller auch mal bald ertrunken. Über Orken entlud sich irgendwann im Sommer ein Gewitter, die Kanalisation war nicht mehr intakt, und Wasser läuft ja immer nach unten. Zum Glück hatte der Donner ihn wach gehalten, jedenfalls stand er plötzlich bis zum Halse im Wasser.

Nun muß ich noch eine Begebenheit erzählen, die sich kurz vor meiner Heimkehr ereignet hatte. Vater hatte in Düsseldorf-Rath, in der Nähe der Firma Schwietzke, für etwas Hamsterware einen tüchtigen Haufen Schutt gekauft. Er und meine Schwester fuhren dann immer wenn sich die Gelegenheit bot nach Düsseldorf, um die Steine aus dem Schutt rauszusuchen und abzuklopfen (von altem Mörtel befreien). Meine Schwester poussierte zu dieser Zeit schon etwas mit meinem späteren Schwager Ludwig Cremer. Ludwig war ein Neffe vom Spediteur Peter Clemens, und er wollte dann per LKW die Steine abholen. Als die Ladung fix und abholfertig dastand, es waren noch einige Nachbarn mobilisiert, die beim Beladen helfen sollten, wurde nach Düsseldorf gefahren und alle waren erstaunt, daß nicht ein einziger Stein mehr vorhanden war. Beim Nachfragen stellte man fest, daß der eine LKW vor gut einer Stunde alles aufgeladen hatte, und man der Meinung war, der rechtmäßige Eigentümer hätte die Steine abgeholt.

Mir war vom ersten Tag meiner Heimkehr an klar, daß die Zukunft kein Zuckerschlecken war. Im Gegenteil, unsere Heimat und auch die Bevölkerung war durch die vielen Luftangriffe derart in Bedrängnis geraten, daß man sich wünschte, bei trockenem Brot aber ohne Bombenangriffe gerne hart arbeiten zu müssen. Unter diesem Motto behaupte ich, spielte sich die erste Wiederaufbauphase im Rheinland ab. Abend für Abend, auf einer improvisierten Bank sitzend, erzählten die Orkener über die miterlebten Angriffe. In unserem Nachbarhaus Schlangen blieben 5 Leute durch eine Luftmine tot. Im Keller der Familie Winzen, Rich-Wagner-Str. Verbrannte die Tochter Sebetzque mit ihren 2 Kindern, bei Hennen Leo blieben sämtliche Pferde, Kühe und Schweine tot in den Trümmern, Leo selbst war verschüttet. Die Bewohner der Noithausener Straße waren ziemlich alle verschüttet, die Familie Länders (4 Leute) konnte nur noch tot geborgen werden. Die Anzahl und Namen der in Orken Totgebliebenen lassen sich auf unserem Ehrenfriedhof schnell feststellen. Man stelle sich einmal vor: Zuerst sind durch Luftminen und Sprengbomben die sogenannten Infrastrukturen vernichtet worden, und dann werden Phosphorbomben geworfen, dann gab es auch von der besten Feuerwehr kein Löschen mehr. Bei diesen Erzählungen, dem Erlebten an der Front, und dem Anblick der auf brutalste Art zerstörten Heimat, verfestigte sich in mir immer mehr der Schwur, Kriegsgegner auf Lebzeit zu sein, und nie mehr eine Uniform anzuziehen.

Die ersten Monate nach Kriegsende waren für die Bevölkerung sehr nervenaufreibend. Es gab kaum etwas zum Essen, die Ungewißheit über den Verbleib der Soldaten und Gefangenen war unerträglich. Dazu kamen die Aufräumungsarbeiten an Häusern, Gärten und Straßen. Alles mußte mit primitivsten Mitteln bewältigt werden. Technische Hilfsmittel wie Bagger oder Baumaschinen gab noch nicht. Hier war “Schöppe“ Trumpf! Das heißt mit anderen Worten Spaten, Schaufel und Schubkarre. Der Winter 1944/45 hatte sich sehr in die Länge gezogen. Mein Vater und die älteste Schwester waren erst im Juni von Düsseldorf wieder nach Orken gekommen, um da mit Aufräumen zu beginnen. Der Garten war von einigen Sprengbomben zur Wüste verunstaltet worden, die schönen Bäume, die normal bald Früchte bringen mußten, waren zu 80% vernichtet. Jedenfalls gab mein Vater sich zuerst an den Garten, er ebnete die Bombenlöcher ein so gut es ging, und konnte Ende Juni noch einige Kartoffeln und anderes Saatgut in die Erde bringen. Das Sprichwort: Wenn die Not am größten ist, ist Gottes Hilfe am nächsten, hat sich in dem Jahr bewahrheitet. Es gab einen schönen Sommer, und einen noch schöneren Spätherbst. Alles Gepflanzte und Gesäte brachte guten Ertrag, und ich erinnere mich noch gut daran, daß mein Vater sehr spät noch Bohnen gelegt hatte, die dann um Allerheiligen geerntet wurden.

Ich hatte mich schnell in den Arbeitsrhythmus, der damals üblich war, eingefunden. Die Uhr hatte wenig Bedeutung, es ging von Hellwerden bis zur Dämmerung. Essen gab es, wenn etwas vorhanden war, zwischendurch. Es brauchte keiner fragen, was essen wir heute? Alles was auf den Tisch kam wurde mit Heißhunger verspeist. Die Bauern, die etwas zu kompensieren hatten, waren natürlich gut dran. Ich erinnere mich, daß ein Landwirt schon seine Stallungen ausfugen lassen konnte, als wir noch im Keller wohnten. Andererseits weiß ich auch noch, daß die Kartoffeln, die tagsüber von den Landwirten gepflanzt wurden, in der Nacht von den hungernden Städtern fein säuberlich wieder geerntet wurden.

Besonders erwähnenswert ist auch das gute Verhältnis unter den Leuten. Es gab weder Streit noch Haß noch Neid, die Not im Krieg, der Hunger und die bittere Armut hatten die Menschen derart eng zusammengebracht, daß jeder für jeden da war. Das erste Brot, was von den Bäckern in Umlauf gebracht wurde war Maisbrot, wenigstens dem Namen nach, es bestand aber hauptsächlich aus Kleie. Man mußte nur staunen, wie die Bäcker dieses Brot auch noch schnittfest backen konnten.

Aus den Erzählungen der Nachbarn erfuhr man dann auch, was sich alles in den letzten Kriegstagen abgespielt hatte, von wo die Amis eingerückt sind und daß die Nazis beim Einrücken der Amerikaner nicht mehr zu sehen waren. Es war schon eine sonderbare Angelegenheit, selbst diejenigen, die den Führer vor einem Jahr noch heilig sprachen, hatten nie das geringste mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt. Zum anderen war die Zeit des Verzeihens schon angebrochen. Meine Mutter kam eines Tages und meinte, obwohl bei uns noch genügend Arbeit war: „Jung, du könntest der armen Frau Bodewein auch mal helfen gehen, die ist ganz allein mit den Kindern und hat keine Hilfe.“Ich hatte soviel Wut im Bauch wegen der Nazis und sagte: „Die soll man sehen daß die SA-Männer ihr den Schutt wegräumen“ (Bodeweins Gerhard war nämlich ein gestandener SA-Mann).Er ist leider nicht aus dem Krieg zurück gekommen, aber ich hatte auf alles was braun war, eine Stinkwut. Den frommen Spruch, man muß auch verzeihen können, habe ich mir oft anhören müssen. Tatsache war natürlich: Frau Bodewein ging viel zur Kirche, genau wie meine Mutter, und dann wurde unter dem Motto: liebe deinen Nächsten, alles Gewesene vergessen. Ich habe dann auch verziehen und dort meine Arbeitskraft eingesetzt, war aber um Haaresbreite dort auch bald der Sünde verfallen. Frau Bodewein hatte nämlich eine Hausgehilfin, die zwar nicht im direkten Arbeitsverhältnis stand, aber froh war, eine Bleibe zu haben. Diese junge Frau, sie mag 5 Jahre älter gewesen sein als ich, bat mich eines Tages, ihr doch abends beim Kellereinräumen zu helfen, Bodeweins wollten auch gerne am Ort des Geschehens sein. Ich half ihr den Keller einzuräumen und die Bettstelle aufzustellen, aber mußte mich nachher fluchtartig aus den Fängen einer kerngesunden jungen Frau retten. Es gab zu unserer Zeit weder Sexualunterricht, noch wurden wir vernünftig aufgeklärt. Man sagte: „Kleine Kessel haben große Ohren“ und sorgte dafür, daß von dem Gesagten nicht zuviel in die Ohren der kleinen Kessel überschwappte. Auch das war eine Lebenserinnerung und gehört festgehalten zu werden.

Das Vergessen wurde auch von unserem Oberpfarrer Thomas plötzlich in jeder Predigt in den Vordergrund gebracht. Er, der die Nazis zehn Jahre nicht ausstehen konnte, sah die reuigen Schafe plötzlich in dem Tempel, den sie damals gerne abgerissen hätten, und er nahm alle auf. Der Oberpfarrer war im letzten Kriegsjahr und nach der Kapitulation der wichtigste Mann in der ganzen Pfarrgemeinde. Er ging den amerikanischen Truppen mit der weißen Fahne entgegen, bei Bombenangriffen war er immer einer der ersten Hilfeleistenden, auch war er der erste Bürgermeister und Chef des Entnazifizierungsausschusses. Das alles vollführte er in Räuberzivil. In den Erzählungen wurde immer die obligatorische Knickerbockerhose und die Schlägermütze erwähnt. Wenn er nach der Kapitulation eine Messe las, in die auch amerikanischen Soldaten kamen, schickte er seine Meßdiener vor die Kirchentür, um für den deutschen Priester Zigaretten zu betteln. In der Nachkriegszeit ging das gute Verhältnis zu meinem Vater zeitweise total in die Binsen. Mein Vater hatte in einer Kirchenvorstandsitzung kritisiert, daß die Pastorei schon neue Dachziegel bekommen sollte, wo ein Teil der Pfarrangehörigen noch kein Dach über dem Kopf hatte. Einmal sollte in einer Sitzung ein Antrag des damaligen Küsters und Organisten behandelt werden (Name ließ sich noch feststellen). Die Frau des Küsters war in Hoffnung, die Küsterfamilie wohnte übrigens im Pfarrhaus, und das Kind sollte darum im Krankenhaus zur Welt kommen. Da hatte der Küster einen Zuschuß beantragt, den der Oberpfarrer keinesfalls genehmigen wollte. Mein Vater brachte es aber fertig, den fast gesamten Kirchenvorstand von der Notwendigkeit zu überzeugen, und der Küster bekam seinen Zuschuß. Da standen zwei Dickschädel gegeneinander, die beide ihr Recht haben wollten. Mein Vater stand Sonntags immer vorne an der Treppe zum Predigtstuhl und hing seinen Hut dann auf den Handlauf. Es kam soweit, daß der Oberpfarrer, wenn er auf den Predigtstuhl ging, ziemlich laut und barsch sagte: „Das hier ist kein Hutständer.“Von da an nahm mein alter Herr, wenn der Pfarrer zur Kanzel ging, für jeden sichtbar den Hut von seinem Ständer, wenn er oben war, wurde der Hut wieder aufgelegt, und nach der Predigt wiederholte sich die Abhandlung wieder.

Diese gegenseitige Hitzköpfigkeit dauerte einige Jahre an, bis meine Schwester heiratete. Meine Schwester war Filialleiterin im Grevenbroicher Konsum, eine ihrer Kundinnen (Kriegerwitwe) verdiente sich durch Singen auf Hochzeiten zu ihrer kargen Rente etwas nebenbei. Nun durfte es eigentlich keine Frage sein, bei dem Brautamt das Ave Maria zu singen, weil meine Schwester ihr Leben lang im Kirchenchor war. Unser Oberpfarrer konnte aber angeblich die Genehmigung nicht geben, er müßte dann beim Bistum eine Konzertgenehmigung beantragen, und die würde er nicht bekommen. Unsere ganze Familie war natürlich sehr enttäuscht, aber die Hochzeit wurde trotzdem so gut es ging gefeiert. Eine gute Woche danach kam die besagte Kundin wieder zu meiner Schwester in den Laden und meinte: „Frau Cremer, dieser Tage heiratet der Metzger Froitzheim und die Elisabeth Sauren, da darf ich aber singen“. Abends kam meine Schwester voller Wut und heulend nach Hause, die Gespräche, die dann geführt wurden als mein Vater auch da war, hatten mit Vergebung und Verzeihen wenig zu tun. Selbst meine Mutter, die sonst immer zu sagen pflegte, an einem schwarzen Rock sieht man jedes Fleckchen, war fassungslos und weinte unaufhaltsam. Sie bekam von meinem Vater den Auftrag, die Brautmesse zu besuchen. Es wurden aber vorsorglich schon Abmeldungen verfaßt, einmal für Kirchenvorstand und Arbeiterverein, und auch für den Kirchenchor. Nachdem meine Mutter in der Brautmesse Froitzheim die Sängerin miterlebt hatte, durfte ich die Abmeldungen zum Pfarrhaus und zum Chorleiter bringen. Meine Eltern gingen zwar weiter in die Kirche, aber sie besuchten die Messe, die vom Kaplan gelesen wurde.

Ich persönlich habe zwar immer ein christliches Leben geführt, aber mit der Kirche habe ich es, nachdem ich miterleben durfte, wie Waffen gesegnet wurden und wie unsere heilige Kirche bei den Morden, die während des Krieges geschahen, nicht einschritt, nie mehr so ernst genommen. Da ich als kleiner Junge und auch als junger Mann immer für die Kirche gestritten habe, machte sich in mir durch derartige Erlebnisse, eine furchtbare Enttäuschung breit, mit der ich nicht so schnell fertig wurde. Man kann nicht als erstes und größtes Gebot die Nächstenliebe auf die Fahnen schreiben, und dann zulassen, daß junge Menschen regelrecht abgeschlachtet werden und dieses anschließend als Heldentod bezeichnen. Unser Oberpfarrer hatte mich durch seine Attacke wieder ein Stück weiter abwärts getrieben. Als ich dann später zum Traualtar gehen wollte, kam ich nicht daran vorbei, den Oberpfarrer im Pfarrhaus aufzusuchen. Wir wollten zwar im Nikolauskloster (Schloß Dyck) geheiratet haben, aber der Oberpfarrer verstand es, mich weichzuklopfen. Er meinte ich wäre in Elsen getauft, zur Kommunion gegangen, hätte die Messe gedient und müßte auch dort getraut werden. Die Brautmesse könnte von ihm aus auch im Elsener Kloster gehalten werden. Für das Gewesene fand er Worte, die einer Entschuldigung sehr nahe waren und ich war wieder mal der Nachgebende.

Ich habe ihn noch mehrmals positiv aber auch negativ erlebt. Einmal fuhr ich mit dem Fahrrad in die Frühmesse, ich war Punkt 7.00 Uhr in der Kirche und die Messe begann auch pünktlich. Um 7.25 Uhr stand ich wieder draußen und im nächsten Augenblick erschien auch der Pfarrer. Meine Bemerkung - Herr Oberpfarrer wie haben Sie das denn gemacht - meinte er nur:“ Das war eine Messe für Rennfahrer“. In den 60er Jahren hatte er schon die Kirche in fast allen Belangen wieder in Ordnung, es fehlte noch eine neue Orgel.

Hierfür rief er in der Gaststätte Baumeister einen Orgelverein ins Leben und nach 2 Jahren konnte die neue Orgel eingeweiht werden. Den Chor hatte er auch wieder aufgepäppelt. Aus einer am Dorf gelegenen Parzelle Kirchenland wurden Gärten verpachtet, diese gingen aber nur an Leute, die gewillt waren im Chor mitzusingen. Im Jahr 1946 wurden alle schon entlassenen Soldaten ins Kloster eingeladen, dort rief er uns zum Verzeihen auf. Höchstens 2 Jahre später wurden wir von ihm und dem Präses der Deutschen Bruderschaften in den Saal Esser nach Orken eingeladen. Es wurde schon wieder vom schönen Schießen, von Schützen und von Umzügen in Uniform gesprochen. Als ich demonstrativ und offen meine Anti-Kriegs-Uniform-Meinung äußerte, war ich mal wieder bei ihm und seinen Hörigen unten dadurch. Er duldete keine Widerrede und war besonders für diejenigen da, die man Jasager nannte.

Als Schmitz Hännes bei Bitburg in der Eifel beim Flugplatzbau ein Mädel kennengelernt hatte und diese Verbindung in die Heiratsphase kam, schrieb die heutige Frau Schmitz, so war es zu der Zeit noch üblich, an das Pfarramt in Elsen, um eine Auskunft über ihren jetzigen Mann zu bekommen. Sie bekam eine wenig positive Antwort von unserem Oberpfarrer, zum Glück waren alle anderen Auskünfte voll des Lobes. Ich habe mich oft gefragt, wie man als Pfarrer einen Menschen und vielleicht dessen ganze Familie ungerecht in Mißkredit bringen kann.

Zuletzt habe ich unseren Thomas erlebt, als er schon ein Jahr im Ruhestand war. Er lebte zuletzt im Kloster bei den Schwestern, war aber so lange es ging, überall anzutreffen. An einem Sonntag während des Hochamtes ging ich über den Friedhof, ich hörte und roch ihn und seine Mitrentner Herrn Peter Pletscher und Paul Fabry. Die drei Herren entfachten einen Rauch auf dem Friedhof wie eine Lokomotive. Bevor ich zu einer Bemerkung kam, sagte der Oberpfarrer: „Hannes mir brenge dene Duede ein Rauchopfer.“(Wir bringen den Toten ein Rauchopfer) Nun will ich ihn aber in Frieden ruhen lassen !!!

Sonst spielte sich in Orken alles so ab, wie wir es von Kriegsende an gewohnt waren. Von Sonnenaufgang bis zum Dunkelwerden, und das waren noch Stunden zu wenig, waren Männlein und Weiblein mit Aufräumen beschäftigt. Es gab kaum noch ein geregeltes Arbeitsverhältnis. Wenn einer noch zur Arbeit fuhr oder ging, war er auch dort mit Aufräumen beschäftigt. Die Landwirte, wie schon angedeutet, waren da ausgenommen. Sie hatten Milch, Getreide fürs Brot und auch etwas Fleisch. Ich habe damals viel bei Weihfeuers geholfen, sie hatten 2 Jungen in meinem Alter und ich war zu Hause aus der Kost. Weihfeuers hatten einen kleinen Betrieb, aber handelten auch mit Kohlen. Der Sohn Peter war zu dieser Zeit schon krumm gearbeitet. Mit ihm habe ich manchen Waggon Brikett leer gemacht und die Brikett sofort abgesackt und nachher in die Kundschaft gebracht.

Im Laufe der Zeit wurde aber ziemlich jeder Orkener sein eigener Kohlenhändler. Die Brikettfabrik “Neurath“ war in unmittelbarer Nachbarschaft und der Güterbahnhof Grevenbroich war wieder als Rangier- und Verschiebebahnhof verwendbar. Nachdem nun auch noch der Ausdruck fringsen für stehlen in den rheinischen Wortschatz aufgenommen war, kamen allabendlich Leute aus Orken und den ganzen Nachbarorten und machten die Brikettzüge eine ganze Portion leichter. Ich erinnere mich, daß Leute aus Rath, Wallrath und Aldenhoven irgendwo im Ort einen Ochsenkarren stehen hatten und diese wurden mit Brikett beladen, welche mit Bollerwagen vom Güterbahnhof zu dem Standort der Karre gebracht wurden. Manchmal war aber die Bahnpolizei zugegen, so daß alle Aktivitäten ausblieben und die Leute leer die Heimreise antreten mußten.

Die Reichsmark hatte kaum noch Wert, man mußte schon das 20 bis 30fache an Geldwert bieten, um überhaupt ins Geschäft zu kommen. Wer Kompensationsartikel besaß, brauchte weder Lebensmittelmarken noch Bezugscheine, der konnte alles bekommen.

Heute ist es doch nicht mehr vorstellbar, daß 50% der Häuser von Alt-Orken mit den primitivsten Mitteln wieder aufgebaut wurden. Die alten Steine wurden vom Mörtel befreit, der Mörtel wurde durchgesiebt und mit neuem Sand vermischt. Um wieder neuen Speis - wir sagten damals “Speis“ zu Mörtel - herstellen zu können, war außerdem noch Kalk und Zement nötig . Da aber die Kalk-und Zementwerke auch alle zerstört waren, gab es dieses Baumaterial nur sehr zögernd. Die Maschinenfabrik Buckau in Grevenbroich hatte eine zentrale Gasanlage für autogenes Schweißen in Betrieb. Hierfür wurden enorme Mengen Karbid gebraucht, die anfallenden Reste, eigentlich Abfälle, wurden für geringes Entgelt als Karbidkalk verkauft. Aber auch hier mußte man einen Bekannten haben, um einen Berechtigungsschein von der Firma zu bekommen. Dieser Karbidkalk war selten richtig gelöscht, man hatte nämlich, wenn man ihn zum Pliestern oder Putzen gebraucht hatte, nachher richtige Plustern auf den Wänden wie wenn einer die Röteln hätte. Bei der damaligen Roddergrube wurde dann irgendwann ein zementähnlicher Baustoff, der Name ist mir leider entfallen, ge- oder erfunden. Zum Betonieren war er nicht verwendbar, aber im Mörtel zum Mauern konnte man ihn verwenden.

So wurde sich überall und mit jeder neuen Errungenschaft durchgewurstelt und Orken nahm von Tag zu Tag mehr Gestalt an. Um die wirkliche Leistung der Wiederaufbauer begreifen zu können, erwähne ich noch, daß es keine technischen Hilfsmittel wie Betonmischmaschinen oder Aufzüge gab. Alle Steine wurden mit einem Steinbrett, welches sich schön an Schultern und Nacken anpaßte, und der Mörtel mit dem Speisback, wenn nötig bis in die Giebelspitze getragen. Unsere erste technische Errungenschaft in der Nachbarschaft Bahnhofstr. war ein Rad aus einem alten Motorrad, welches am Giebel oder Gerüst befestigt wurde und wo ein starkes Seil über die Felge lief, um aufzugähnlich etwas hoch transportieren zu können. Dabei gab es aber wunde Hände, denn Arbeitshandschuhe waren zu der Zeit noch nicht in Mode, aber auch nirgendwo zu haben.

Und dennoch wuchs ein Haus nach dem anderen. Alle waren bettelarm, wir lebten von der Hand in den Mund, aber es gab einen Zusammenhalt und ein Füreinanderdasein, wie man es sich heute wünschen würde. Wenn in unserer Straße einer eine Betondecke goß oder ein Dach deckte, waren immer genügend Helfer zur Stelle. Da wurde aber nicht von Lohn, Beköstigung oder Getränken gesprochen, weil eben keiner etwas hatte.

Die hiesige Landbevölkerung hatte ja überwiegend einen Garten und dadurch wurde dem Hunger von Ernte zu Ernte etwas Einhalt geboten. Indem wir unseren Garten teilweise früh bepflanzten, versuchten wir, zwei Ernten einzubringen, was aber nie klappte. Wohl haben wir Experimente beim Kartoffelpflanzen gemacht, indem wir den Saatkartoffel halbierten und nur die Hälfte mit den Keimen in die Erde steckten, die andere Hälfte kam in den Kochtopf. Es wuchsen zwar auch so Kartoffeln, aber das Experiment ist nicht empfehlenswert.

So ganz langsam merkte man aber, daß die deutsche Wirtschaft sich wieder regte. Die einzelnen Fabriken holten sich ihre Leute wieder an die Produktionsstätten, denn wer produzierte hatte etwas zum kompensieren. Da gab es z.B. die Firma Franz Meschede, eine Eisengießerei, die verwandtschaftliche Beziehungen zu einem Gärtnerbetrieb in Gierath hatte und dadurch an die nötigen Rohstoffe zum Gießen herankam. Ich hatte durch den Bauer Weihfeuer die ersten Kontakte zur Zuckerfabrik in Wevelinghoven geknüpft.

Dort arbeitete der Schlossermeister Mund aus Orken und wir sollten dem lieben Mann eine Fuhre Kohlen, halb Braun- und halb Steinkohlen nach Hause bringen. Als wir geladen und verwogen hatten, erklärte der Herr Mund uns, wie wir durch den Bend fahren könnten, das wäre für die Pferde besser als das Kopfsteinpflaster in der Stadt. Ganz beiläufig meinte der Herr Mund noch ich werde euch unterwegs dann treffen. Man höre und staune - Walter Mund kam plötzlich aus dem Gestrüpp heraus, ließ uns anhalten und belud unseren Pferdewagen noch mit sechs Eimern Melasse, wovon Peter Weihfeuer und ich je einen mitbekamen. Ich muß erläuternd kundtun, daß Melasse ein Abfallprodukt in der Zuckererzeugung ist und damals höchstens noch bei der Viehfutterherstellung hätte Verwendung finden können. Da ich einige Jahre später auch bei der Zuckerfabrik Arbeit fand und auch über derartige Transaktionen mit vielen Arbeitern und mit namhaften hohen Angestellten gesprochen habe, kann ich behaupten, daß Pfeifer und Langen immer eine Firma mit sehr sozialem Fundament war. Der gesamte Anfuhr- und auch der Mieteplatz ist in den Kriegsjahren mit Braunkohlen vollgestopft worden, die nachher für die Wevelinghovener Bevölkerung frei gegeben wurden. Es war auch zu dieser Kompensationszeit ein offenes Geheimnis, daß die Arbeiter, wenn sie das Essen aus ihrem Henkelmann verzehrt hatten, diesen mit Zucker füllten und so etwas zum Tauschen hatten, aber auch gerne zur Arbeit kamen. Ein Siedemeister erzählte mir einmal, daß sein Vorgänger der Meister Lipp sich beim Direktor beschwert hätte, weil der neue schwere Handhammer verschwunden war. Darauf der Herr Direktor: „Herr Lipp! Wenn die Leute alle einen Handhammer haben, kommt keiner mehr abhanden.“

Nun wieder zu unserer Melasse. Wir hatten die Kohlen und 4 Eimer Melasse abgeladen und wußten gar nicht, was die beiden Eimer für einen Reichtum bedeuteten. Es war nämlich die Zeit angebrochen, in der es in Deutschland mehr Brennereien und Destellerien gab als sonst irgendwo in der Welt. Man nahm dafür Zuckerrüben, kochte diese, preßte den Saft heraus. Dieser Saft wurde dann mittels Brenngerät in ein stark alkoholisiertes Destillat verwandelt, welches von Kennern zu verkaufsfähigen Schnäpsen oder Likören verarbeitet werden konnte. Bei unserer Melasse hatten wir den Kochvorgang erspart, aber die Melasse mußte zwei mal den Brennapparat durchlaufen. Wir fanden in der Ortschaft Fürth, wo ich nachher auch meine Frau kennenlernte, zwei perfekte Brennmeister, die aber dem Gebrannten selbst am meisten zusprachen. Die wichtigste Errungenschaft für uns war aber die Tatsache, daß wir nicht nur mit harter Arbeit, sondern auch mit Tauschware etwas erreichen konnten. Es war immer sehr schwer, bei solchen Brennmeistern einige Flaschen zum Kompensieren abzueisen. Darum hielten wir uns diese Verbindung in der Hinterhand, aber knüpften mit einem anderen Zuckerfabrikaner neue geschäftliche Tätigkeiten an. Hier mußten wir nicht daneben stehen, um an kleine Bestände zu kommen.

Im Arbeitsleben gab es langsam etwas Entlastung. Bei der Firma Pick konnte man hier und da schon mal etwas an Einschalmaterial geliehen bekommen. Diese Stützen, Balken und Bretter gingen von Haus zu Haus. Die ersten Mischmaschinen und Schrägbauaufzüge hielten auch ihren Einzug. Es gab in Orken einen Herrn Stiller, Bauhandwerker, überaus fleißig und trotz seines vorgeschrittenen Alters noch sehr fortschrittlich. Er hatte als kleiner selbständiger Bauhandwerker eine Betonmaschine und auch einen Schrägbauaufzug. Herr Stiller konnte zwar nicht mit der Firma Pick konkurrieren, aber die Leute, bei denen er arbeitete, waren nicht betrogen. Da seine Betonmaschine auf vier Autorädern lief, konnte er diese auch für kleine Entgelte verleihen. Wenn ihm ein Auftrag über ein Haus zuging, nahm er sich einige Arbeiter von der Firma Pick nach Dienstschluß dazu, um den Bau schnell fertig zu stellen. Herr Stiller war ein Sudetendeutscher, dessen Sohn in Orken einquartiert war, weshalb er wohl auch seine neue Heimat bei uns fand. Leider blieb der Sohn im Krieg verschollen und Herr Stiller selbst hätte zwar noch einige ruhige Jahre verdient gehabt, aber die Nachricht über den Tod seines Sohnes machte ihn krank und er verstarb dann sehr schnell.

Als unser Haus ziemlich fertig war, fertig nenne ich jetzt, wir hatten ein Dach über dem Kopf, wurde ich von Herrn Adam Meschede angesprochen, ihm beim Aufbau einer neuen Firma zu helfen. Er hatte die Eisengießerei seines Vaters und die gärtnerischen Erzeugnisse seiner Tanten aus Gierath als Sprungbrett verwandt und wollte eine Werkzeughandlung eröffnen. Adam Meschede war ein aufgeschlossener Mann, der ein wenig von sich eingenommen war und die schwere Gießereiarbeit bei seinem Vater wohl nicht mehr ausüben wollte. Zudem hatte er eine nette moderne Frau, die wie ich annahm, gerne mit ihrem Mann die eigene Selbständigkeit präsentiert hätte. Ich habe damals zugesagt, die neue Firma mit aufgebaut (dazu gehörte auch der Neubau eines Lagers) und zu dieser Zeit den Zivilführerschein gemacht. Adam Meschede hatte nämlich einen uralten Citroen irgendwo kompensiert. Dieser Wagen, welcher irgendwo in der Eifel unter Stroh versteckt den Krieg überstanden hatte, war voll funktionsfähig. Man sieht dieses Modell heute noch in alten Filmen. Jedenfalls war dieses Fahrzeug überaus wertvoll für den jungen Betrieb, es wurde noch eine Anhängerkupplung anmontiert, Hänger war auch vorhanden, Benzinscheine gab es über Vaters Gießerei und wenn Adam im Wagen saß und eine dicke Zigarre rauchte, kam er sich vor wie Al Capone. Adam hatte zu dieser Zeit, es mag Ende 1947 gewesen sein, doch schon einige Verbindungen, die natürlich durch die Gießerei hauptsächlich zustande kamen. Die Gießerei produzierte Kanaldeckel und andere Abdeckungen, die in allen Kommunen dringend benötigt wurden, und Adam hatte Bezugscheine für Benzin, Reifen sowie für alle Baumaterialien. Beim Bau des Werkzeuglagers haben uns die Herren Hans Schäben und Josef Klaßen noch geholfen. Die beiden waren Beamte, die auf ihre Wiedereinstellung warteten, weil sie noch nicht entnazifiziert waren. Es waren harmlose Parteigenossen, die dann auch recht bald ihren Schein bekamen. Herr Schäben war Beamter bei der Gemeindeverwaltung in Jüchen und Herr Klaßen war beim damaligen Landratsamt beschäftigt, wo beide bis zur Pensionierung ihren Dienst taten.

Ich war noch bei der Firma Adam Meschede beschäftigt, als die Deutsche Mark geboren wurde. Zu der Zeit war aber schon erkennbar daß die neue Firma bei kaufmännischen Normalitäten wohl nicht bestehen konnte. Die erste Gehaltzahlung mit neuem Geld erfolgte noch halbwegs pünktlich, aber die Anstrengungen meines Chefs, die Firma mit einem wenn auch nicht allzu anspruchsvollen Angestellten über Wasser zu halten, blieben mir nicht verborgen. Da ich nämlich meine Frau kennengelernt hatte, mußte ich versuchen, Geld zu verdienen um irgendwann eine Familie zu gründen, die ja auch ernährt werden mußte.

An Erwähnenswertem während meiner Tätigkeit als Werkzeughändler wäre noch die Tatsache, daß mein Zuckerfabrikaner (Schwarzbrenner) bei Meschede als Mieter wohnte, er brannte ohne daß jemals einer etwas gesehen oder gerochen hat. Matthias Schillings war ein sehr guter und zuverlässiger Arbeiter, sein Spitzname war nämlich Mattes, ich hätte ihm nie eine derartige kleine Brennerei zugetraut. Wenn ich ihm einen Zettel unter die Tür schob mit dem Vermerk, bitte 5 Schrauben mit Normalgewinde, hatte mein Vater am nächsten Tag 5 Flaschen klaren Knolli-Brandy im Haus. Mein Vater fuhr nur selten ohne Fracht nach Düsseldorf zur Arbeit, er hatte sich einen Kundenstamm aufgebaut, der es zuließ, den eigenen Verzehr ohne großen Aufwand zu finanzieren.

Dann erinnere ich mich noch daran, daß ich den alten Citroen mal als brennende Limousine in Fürth vor der Türe stehen hatte. Ich hatte den Wagen geputzt und auch den Motorraum gesäubert, dabei war ein Lappen unter der Haube geblieben, der sich dann entzündete. Da ich gleich Wasser zur Hand hatte, konnte ich das schlimmste verhüten. Nun waren aber alle Kabel verschmort, die dann mittels Isolierband soweit repariert wurden, daß ich die Opelwerkstatt Hermanns erreichte.

Mir ist auch noch gut in Erinnerung, als ich wieder mal mit Adam Meschede nach Gierath zu den Tanten mußte. Die Tanten waren 3 Schwestern von Adams Mutter. Es waren schon ältere Frauen (Jungfrauen), an deren Figuren und Staturen man sehen konnte, was sie getan hatten, mit anderen Worten “Sie waren krumm gearbeitet“. Als Adam seinen Tanten wieder einige Komplimente gemacht hatte, die ihm aber Kisten und Kasten vollgepackt hatten, ging es wieder nach Grevenbroich. Auf dem Heimweg meinte Adam: „Johann, so ist das im Leben sie säen nicht und ernten nicht und sammeln in die Scheune.“ Dieser Spruch ist mir nie im Leben aus dem Sinn gegangen, aber diese Art Vögel des Himmels sind mir manchmal begegnet. Nachdem Adam Meschede hauptamtlich wieder im Betrieb seines Vaters tätig war, ist er leider einige Jahre später bei einem Verkehrsunfall an Vierwinden schwer verletzt worden und am Tag darauf verstorben.

v.l.: Hans Moll, Else Mühlsiepen, Nelli Merzenich, Toni Reibel - die späteren Ehepaare Moll und Reibel

 

Nun möchte ich versuchen, aus der Zeit wo ich meine Frau kennenlernte zu schreiben. Wir Orkener Jungens, so ca. 7 bis 8 an der Zahl, waren fast immer zusammen und hielten auch zusammen. Alle waren arm, und alle mußten sich nach der Decke strecken. Nur zur Orientierung: „die Schuhe die ich Sonntags trug, wurden samstags beim Schuhmacher (Einerlei) abgeholt und Montags wieder hingebracht um für den kommenden Sonntag wieder einsatzbereit zu sein. Außer mir waren da noch Toni Reibel, Toni Maßen, sein Bruder Heinz, Adi Faßbender, Peter Weihfeuer und sein Bruder Andreas sowie Berti Fußangel. Von dieser Truppe blieben wieder außer mir Berti Fußangel, Adi Faßbender, Toni Reibel und Toni Maßen in Fürth kleben.

Die beste Mannschaft, der 1. FC Orken je gehabt hat.

 

Wir hatten damals eine ganz erstklassige Mannschaft. Zuerst wurde mit Mittelläufer gespielt. Dieser bekam im Laufe der Zeit  und des moderneren Fußballspiels den Posten des Stoppers übertragen, während die Laufarbeit von den Außenläufern übernommen wurden. Unsere 1. Mannschaft spielte schnell in der Bezirksklasse und wenn einmal ein Lokalderby gegen den TuS Grevenbroich anstand, der TuS spielte eine Klasse höher, mußte Orken nicht unbedingt als Verlierer den Platz verlassen. Leider zeigte sich von Jahr zu Jahr mehr, daß Geld im Sport eine immer größere Rolle spielte. Die besten Spieler wurden auch damals, in den 60er Jahren schon abgeworben, man bot entweder eine lukrative Arbeitsstelle oder aber bares Geld an.

Der 1. FC Orken vor der Gaststätte Alderath (Zur Eiche)

 

Der MGV-Liederkranz Orken war ein alter Verein, welcher durch den Krieg sehr stark dezimiert worden war. Die noch vorhandenen Mitglieder gaben sich große Mühe, den Verein und somit auch den Chorgesang in Orken wieder populär zu machen. Auf diesem Wege wurden auch ich und einige andere junge Burschen dort Mitglied. Hubert Stärken war zu dieser Zeit Vorsitzender und war von einigen älteren, aber sehr netten und interessanten Herren umgeben. Ob ich nun Nakötters Adam, Schotten Wilhelm, Lingen Jakob, Peter Schnicks, Schlaven Winand oder die jüngere Generation Peter und Hubert Nakötter sowie Jean und Peter Müller und Willi Görtz, welche mittlerweile heimgekehrt waren. Geprobt wurde in der Gaststätte Stammen und unser Dirigent war damals, für mich unvergeßlich, Theo Eßer. Er war beruflich als Beamter beim Finanzamt in sehr guter Position, aber nebenbei auch Vollblutmusiker. Theo Eßer begleitete meinen Lebensweg einige Jahre, nicht nur als mein Dirigent im Gesangverein, er wurde mein Brautzeuge bei der Trauung am Standesamt und war auch sonst immer hilfreich für mich und für jeden anderen zur Stelle. Ich bin viele Jahre im MGV-Orken als Mitglied und auch Sänger gewesen und würde im Nachhinein behaupten, unter und mit den Sangesfreunden, auch ab 1974 im Werkschor der Zuckerfabrik, wunderschöne Stunden erlebt zu haben. Der Spruch, wo man singt da laß dich nieder, böse Menschen haben keine Lieder, entspricht voll und ganz der Wahrheit.

Mein Leben ging aber nicht nur in Vereinen und Festen weiter, der Ofen mußte weiter qualmen, oder aber, um weiterzukommen mußte Geld verdient werden.

Ich nahm jede Gelegenheit wahr, wo etwas verdient werden konnte. Wenn die Spedition Clemens einen Umzug in Auftrag hatte, bekam ich jedesmal Bescheid. Durch meine Tätigkeit bei van Endert in der Möbelabteilung verstand ich es, Möbel auseinander zu nehmen aber diese auch zu verpacken. Bei einem Umzug  war immer schön etwas zu verdienen, aber es war auch eine außergewöhnlich harte Arbeit. Ein Küchenherd und ein bis zwei schwere Öfen gehörten immer zum Transportgut. Hier und da zählte auch ein Klavier oder, was noch schlimmer war, von einem Pastor, ein kompletter Anhänger voll Bücher zum Umzug. Wenn dann einer aus der ersten Etage auszog und die neue Wohnung befand sich im dritten Stock, streckte man abends alle Viere von sich.

Im Laden meiner zukünftigen Schwiegereltern sprang ich auch mit ein, aber da konnte ich nicht mit Lohn rechnen, weil das Geschäft sich auch im Aufbau befand. Eines Tages hatte mein Vater einen Herrn Käße von der Blattmetall kennengelernt. Bei der Rheinischen Blattmetall wurde ab 1949 schon intensiv gearbeitet und auch dementsprechend Geld verdient. Das Geld kam aber über sehr viele Stunden, also von Montags bis Freitags je 12 Stunden und Samstags und Sonntags jeweils 8 Stunden zusammen. Der Herr Käße hatte mir einen Termin im Personalbüro beschafft und ich fing dann auch gleich dort an. Dort habe ich dann 18 Monate teils mit Widerwillen gearbeitet, aber ich mußte Geld verdienen, weil ich einmal genau so arm war wie jeder andere und zum anderen heiraten mußte, weil meine Tochter unterwegs war. Mein höchster Stundenlohn um 1950/51 war DM 3,75. Trotzdem war man froh, eine halbwegs sichere Stelle zu haben. Es gab Weihnachtsgeld, man konnte Abfallholz und Folie zum Depotatpreis kaufen und war renten- und sozialversichert. Ein altes Fahrrad stand als Transportmittel zur Verfügung, weil das Geld für den Bus für andere Sachen nötig war. Die ersten Monate ging ich mit Lust und Liebe täglich zur Arbeit. Mein Vorgesetzter war der Herr Lukas, er war Versandleiter und hatte alles im Griff. Es war ein kleiner, aber hochintelligenter Mann, der alles und jeden durchschaute und dem nichts entging. Mit ihm habe ich während meiner Tätigkeit ein sehr gutes Verhältnis gehabt und viel von ihm gelernt. Auch alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren nette Leute, wogegen ich mit dem Betriebsleiter Herrn Harder bestimmt 10 von den 18 Monaten auf Kriegsfuß stand. Ich mußte in einer Nachtschicht Verpackungsholz zum Trocknen an den Glühofen stellen, weil laufend Reklamationen eingingen, weil die Ware oxidierte. Für diese Sache war ich extra abgestellt worden, aber keiner hatte mir etwas von den Vorschriften der Berufsgenossenschaft erzählt. Während ich in der Schreinerei das Holz zurechtsägte, kam der Meister Pannes durch den Versand und traf dort den extra abgestellten Arbeiter nicht an. Daraufhin bekam ich eine schriftliche strenge Verwarnung, die ich dem Herrn Harder mit einigen netten Worten zurück brachte. Selbst als Herr Harder mir diese Verwarnung über unseren Obmann zustellen ließ, brachte ich diese mit noch schöneren Worten wieder in sein Büro. Von da an habe ich den Herrn Harder nicht mehr sehen mögen, ich bin ihm wenn möglich aus dem Wege gegangen. Mein Vorgesetzter Herr Lukas muß wohl mit Herrn Harder auch kein gutes Verhältnis gehabt haben, denn er ermunterte mich mehrmals, die Linie beizubehalten. Am meisten ärgerte mich, daß unser Betriebsobmann, Matthias Müller, der übrigens auch in Fürth geboren war, nicht meiner Bitte entsprach mit Herrn Luckas, mit mir und dem Vorarbeiter Holzweiler zum Betriebsleiter Harder zu gehen, um die Angelegenheit auszuräumen. Mir wurde wirklich klar, was kleine Gernegroße alles durch Feigheit und Nichtkönnen vermasseln können. Während der Arbeit verhielt ich mich korrekt, ließ mir aber wenn möglich nur noch vom Versandleiter Arbeiten aufgeben oder wenigstens bestätigen, dann konnten die Herrn sich alle aufbäumen wie sie wollten, der Herr Luckas stand hinter mir. Meine Arbeitskameraden wollten mich schon als Kandidat bei der nächsten Betriebsratswahl haben, aber ich hab denen offen gesagt: „Sollte ich bei der nächsten Betriebsratswahl noch hier sein, fliegt der ganze Betriebsrat in die Luft“. Das hatte natürlich alles die Runde gemacht und ich hatte mit dem Noithausener Hubert Nakötter und seinem Kollegen (Name ist mir entfallen) Verbindung, die mir auch die unmoralischen Vorkommnisse bei den Vortouren zu den Ausflügen erläuterten. Es muß dort oft wie in Sodom und Gomorrha zugegangen sein bei Männlein wie bei Weiblein. Das gleiche spielte sich später bei der Zuckerfabrik ab, bei Buckau gabs ähnliche Fälle und in Neuß in der Gewerkschaftszentrale war auch eine hochgradige Gewerkschafterin wegen Untreue gefeuert worden. Ich hatte zwar einmal daran gedacht, mich gewerkschaftlich weiterzubilden, aber auf Grund der erlebten Vorkommnisse habe ich nie mehr einen Pfennig Beitrag bezahlt. Wohl habe ich später bei der Zuckerfabrik mehrere Jahre hintereinander den Wahlleiter verkörpert und Belegschaft, Geschäftsführung und die Vorgeschlagenen zum Betriebsrat wußten, daß ein wirklich Neutraler an ihrer Spitze stand.

Eine weitere Enttäuschung erlebte ich, als das Landratsamt einen Sachbearbeiter für Feuerwehrangelegenheiten suchte. Ich war während der Kriegsjahre mit Leib und Seele Feuerwehrmann gewesen und war nur wegen meiner Uniformabkehr noch nicht wieder Mitglied. Auch war ich in und über alle Feuerwehrangelegenheiten ziemlich informiert, hatte eine gute kaufmännische Ausbildung, womit eigentlich damals die Einstellungsbedingungen gut abgedeckt waren. Es kam weder zu einem Vorstellungsgespräch noch zu einer Anstellung, die Stelle bekam einer aus Ostdeutschland, der weder Erfahrung noch Zugehörigkeit zu einer Feuerwehr nachweisen konnte. Heute, 50 Jahre danach behaupte ich, die sogenannten Seilschaften gab es damals bei den Flüchtlingen auch schon. Diese Tatsache bestätigt sich immer wieder, wenn ich die Zeit Revue passieren lasse, ob Bundesregierung, Landesregierung oder Kommunenmitglieder, ob Handel oder Industrie, überall tauchten welche in gehobener Stellung auf und oft genug hat es sich gezeigt, daß eine Personalüberprüfung gar nicht stattgefunden hat. Ich erinnere mich daran, daß die Flüchtlinge und der Kartoffelkäfer gleichgestellt wurden, weil beide nicht mehr wegzudenken sind.

Nun habe ich Themen behandelt oder abgehandelt, die nicht jeder gerne wahrnimmt aber dennoch in meine Lebenserinnerungen hinein gehören, weil das Flüchtlingsthema in der Nachkriegszeit ein großes Problem war.

In Orken konnte man mittlerweile die einzelnen Straßen oder Straßenzüge wieder erkennen, die Menschen hatten enorme Arbeit getan, um wieder ihre Häuser beziehen zu können. Schlippers Baas (Ignaz Schlipper) kapitulierte vor seinem Trümmerhaufen, sein Schwager war Kreisbauernführer und besorgte ihm einen schönen Hof in Garzweiler. Das Trümmergrundstück einschließlich. zerstörtem Heiligenhäuschen kaufte später die Familie Wachten.

 

So sah ich in der ersten neugekauften Garderobe aus.

 

 

 Die Flöhne Eck (Bäckerei Herter) war auch wieder ziemlich aufgebaut. Herters hatten damals als erste eine Dacheindeckung aus großen gewalzten Blechplatten, die sahen zwar nach Aluminium aus, aber waren es nicht, jedenfalls glänzten und strahlten sie bei Sonnenschein und auch bei Mondschein. Die Flöhne Eck war immer unser Hauptanlaufziel, zumal neuerdings bei Tinni ein Lehrmädchen angefangen hatte. Ja Christa Brückmann, so hieß die Blondine, war die Tochter von Leppers Johanna und eine nette Person. Friedel Bell und ich sangen, pfeiften und musizierten immer noch gerne und hatten dann oft Mädels und Jungens aus engerer und weiterer Nachbarschaft in unserem Gesang vereint. Wir hatten auf einige schöne Melodien eigene Texte geschrieben, wie z.B. Möwe du fliegst in die Heimat, aber am liebsten sangen wir unser Lied:

 

Neu gebaut aus alten Steinen, steht nun wieder Flöhne Eck,

Das hier fast nur Trümmer waren, sieht man am großen Haufen Dreck.

Schöner wie in alten Zeiten, steht das Lebensmittelhaus,

sieht man es von Ferne blinken, sieht es Gold und silbern aus.

Doch das neu gebaute Häuschen hat auch schlechte Seiten schon,

denn ein ungeputzter Giebel, lockt des Schmitzen Huberts Sohn.

Wenn man geht mit glatten Steinen über rauhes Mauerwerk,

wird man sich da drinnen erschrecken, bald als wenn Alarm noch wär.

 

Wir mögen vielleicht manch einem damals von der wohlverdienten Nachtruhe etwas geraubt haben, aber das wurde uns nie krumm genommen. Ich habe schon sehr oft mit gleichaltrigen Frauen und Männern über unsere in Anführungszeichen so schöne Jugend gesprochen, die Resonanz war immer die gleiche, keiner möchte mit der heutigen Jugend tauschen. 

Wir Jungens hatten an Sonn-und Feiertagen unseren Lauf doch weiterhin nach Fürth eingeschlagen. Im Januar 1950 habe ich geheiratet und  zwar wie gesagt im Standesamt unter Führung von Theo Esser, und zwei Tage später in der Kapelle des Elsener Klosters kirchlich. Wir haben uns nach der Decke strecken müssen, haben eine schöne Feier im engsten Familienkreis gehabt, meine Frau bekam zwar ein neues Kleid, aber den schwarzen Anzug lieh ich mir damals bei meinem Sangesbruder Hubert Nakötter. Es wurde alles so klein und billig wie möglich gehalten, um keine Schulden aufkommen zu lassen. Mein Vater sagte zwar immer: „Ob unser Hannes 5,00 oder 50,00 DM in der Tasche hat, abends ist immer wieder große Fehlanzeige“. Das mag bis zum Tag unserer Familiengründung gestimmt haben, aber dann gab es nur noch gnadenloses Sparen. Diese Eigenschaft ist mir bis heute treu geblieben, wogegen mir für meine Familie nie etwas zu teuer war.

Ich ging meiner Arbeit bei der Firma Blattmetall ob Tagschicht oder Nachtschicht, wenn auch nicht mit großer Freude nach. Herr Luckas hatte mir schon einige Male gesagt, daß er mich gerne zeitweise ins Versandbüro unterbringen möchte, aber ich kannte die Schwierigkeiten und meinen Widersacher Harder so gut, daß ich wußte solange ich die Verwarnung nicht annahm, konnte da nichts mehr zusammen laufen. Also blieb ich stur aber meiner Umgebung gegenüber korrekt. Im Versandbüro arbeitete zu dieser Zeit noch Neuens Pater, Moritz Sieger und Josef Peiffer, alles mir bekannte nette Herren, mit denen ich gerne zusammen gearbeitet hätte. Peter (Pater Neuen) unterhielt zu der Zeit schon  eine Freundin, die im Versand arbeitete, die wurde täglich mit einem Frühstücksei, Salz und einem sauberen Eierlöffel bedient. Herr Neuen sprach und schrieb damals  5 oder 6 Sprachen und wird auch ein dementsprechendes Gehalt bekommen haben.

Auch von den Packerinnen und Packern im Versand waren einige in Fürth beheimatet, insgesamt gesehen verdienten mehr als die Hälfte aller Fürther zu der Zeit ihre Brötchen bei der REBAG. Die Fürther waren eben alle sehr fleißig und so kam es oft vor, daß die ganze Familie einen Arbeitgeber hatte. Zu bemerken ist noch, daß die REBAG eine  zahlungsfähige Firma war, aber auf sozialer Ebene wie Toiletten, Waschräume oder Eßräume spielte sich zu der Zeit überhaupt nichts ab. Es gab im Versand für uns Männer eine Wasserzapfstelle und ein elektrisches Gefäß, wo wir unsere Henkelmänner aufwärmen konnten und da sah es nirgendwo in der Nähe einladend aus. Ich erinnere mich noch, daß wir unsere Taschen nie unter den Packtisch abstellen konnten, weil dann die Ratten unsere Brote verzehrten. An meinem Packtisch arbeitete noch Hans Bertram aus Grevenbroich und Gottfried Faßbender, genannt der Dämpes. Am Nebentisch war Heinrich Bender und der noch sehr junge Heini Klaßen untergebracht. Der Dämpes war so fleißig daß wenn er mal gerade nichts tat und der Herr Luckas kam, einem anderen dessen Sackkarre aus den Fingern zog. Wir sagten immer Gottfried ist 20-facher Rußlandheimkehrer, ihm machte auch nichts aus, wenn die Ratten schon mal ins Brot gebissen hatten. Seine Frau Traut hatte ihm mal einen Bückling mitgegeben, und der ganze Versand war am Verzehr mitbeteiligt, eine Katze hätte keine sauberere Arbeit verrichten können. Eine Tasse zum Trinken hat Gottfried nie nötig gehabt, er nahm seine Kaffeekanne am Ausguß, klappte den Deckel hoch und dann ließ er laufen. Bei dieser Zeremonie stand einmal der kleine Herr Luckas vor dem nicht viel größeren Gottfried und machte eine unmißverständliche Kopfbewegung, er sah und sagte: Mensch Gottfried Sie haben ihre Hose aufstehen, dann meinte Gottfried  kurz und knapp:“ ech muß erbede wie e Peed dann kann ich och eröm loofe wie e Peed.“Wir haben bei aller Arbeit oft unseren Spaß gehabt. Bertrams Hans machte keinen Schritt nach links oder rechts ohne sein Hauptwerkzeug,  den Hammer dabei zu haben. Er hing der Selbständigkeit seines Vaters, einer gutgehenden Schmiede, immer noch nach und konnte sich schlecht unterordnen. Beim Schützenzug in Grevenbroich verkörperte er nicht wie sein Vater den Obersten, sondern nur den Adjutanten. Zeitig vor der Grevenbroicher Kirmes nahmen wir einen stabilen Besenstiel, an dem denn vom Pferdekopf bis zum Lamettageschmückten Reiter alles anmontiert oder aufgebaut wurde. Wenn dann dieses Steckenpferd mitten in der Versandhalle hing und wie eine Fahne hoch und wieder runter gelassen wurde, war unserem Hans der Stolz von den Wangen abzulesen. Eins meiner schönsten Erlebnisse im Versand war folgende Begebenheit. Ich war arbeitsmäßg am Geschäft meiner Schwiegereltern beteiligt, selbstverständlich mußte ich für die Kaffeegetränke das nötige Aufgießpulver mitbringen. Das war in meinem Falle“ Molls glückliche Mischung“, die aber nicht besser oder schlechter wie Lindes oder Kathreiners war und zahlen mußte ich sowieso. Nun hatte man Heinrich Bender beauftragt, ein neues Paket Kaffee mitzubringen, er hätte lange genug gratis getrunken, das würde nun endgültig  aufhören. Ich hatte die Angelegenheit ins Lächerliche gezogen, aber ich sollte mich täuschen. Gottfried bewachte den großen Topf wie seinen Augapfel und als alle außer Bender genug getrunken oder in den Tassen ihren Vorrat hatten,  spuckte Gottfried in den großen Topf und sagte, wer jetzt noch Durst hat soll trinken. Ich habe später versucht da wieder etwas Frieden einziehen zu lassen, aber Gottfried meinte, daß er das Kaffeemehl umsonst hätte wäre selbstverständlich, seine Frau käme ja zu uns kaufen, aber der Astermann wie man den Herrn Bender nannte hätte kein Anrecht auf Gratiskaffee.

Mein letztes Erlebnis negativster Art und Grund meiner Kündigung war folgendes. Bei Dienstantritt gegen 18.00 Uhr kam unser Obmann in seiner herrischen Art und brachte mir bei, in den Nächten neben der anfallenden Arbeit den Getränkeverkauf zu übernehmen, die Nachtschichtler müßten ja Gelegenheit haben, mal eine Flasche Sprudel oder Limo kaufen zu können. Obwohl der Herr Luckas in der Nähe stand sagte ich dem Obmann, wenn mein Vorgesetzter nichts dagegen hat, werde ich das übernehmen. Ich ging zum Herrn Luckas, der hatte natürlich alles mitgehört und meinte:„Ich muß Ihnen ja nicht  sagen, daß sie mit dieser Gesellschaft sehr vorsichtig sein müssen“. Er sollte Recht behalten, denn schon in der ersten Woche kam mein Obmann und erklärte mir, die Getränkekasse stimmt nicht, der Herr Luckas hatte da auch Wind von bekommen, er ging an mir vorbei und sagte ich habe sie ja gewarnt. Jetzt gab es aber für mich kein Kneifen mehr, ich wußte, daß bei mir kein Pfennig fehlen durfte und wollte den Spitzbuben überführen. Es gab in der Färberei einen Meister namens Feuerbach. Dieser kam aus Garzweiler und wir fuhren dann von Fürth bis Blattmetall zusammen. Feuerbach hatte einen schweren Unfall gehabt wobei ihm beidhändig  je 4 Finger verloren gingen. Nach seiner Genesung hatte man ihn zum Meister in der Färberei gemacht. Mit ihm zusammen machte ich täglich Bestandsaufnahme ob Leergut oder Inhalt und bei Schichtende wurde wieder alles festgehalten und errechnet. Den täglichen Abschlußzettel bekam H. Nakötter an einer bestimmten Stelle untergebracht. Innerhalb der nächsten drei Wochen war für uns sonnenklar, wer der Spitzbube war. Aber unser lieber Obmann war wohl so in die Schlechtigkeiten verwickelt, daß er mir zwar versprach Abhilfe zu schaffen, aber den von mir nachgewiesenen Kameradendiebstahl konnte er nicht ahnden.

Zum Glück traf ich irgendwann meinen Schulkameraden Peter Zimmermann, der bei der Zuckerfabrik dabei war, auf Grund seiner früheren Verbindung seinen Weg zu machen. Er hatte dort, nachdem er einige Jahre Handelsschule gemacht hatte und zwischenzeitig  auch einige Monate bei der Wehrmacht war, eine kaufmännische Lehre begonnen, die aber noch nicht abgeschlossen war. Jedenfalls suchte Peter Arbeiter für die bevorstehende Kampagne und weil ich bei der Blattmetall die Schnauze restlos voll hatte, sagte ich kurzfristig zu. Am nächsten Tag habe ich den Herrn Luckas informiert und ihn gebeten, mir die Entlassungspapiere zu besorgen, der aber meinte, überlegen sie bis Mittag gut was sie wollen, ihre Papiere besorge ich ihnen auch noch im Laufe des Nachmittags. Ich hatte mich in den 18 Monaten im Versand eigentlich gut eingearbeitet und auch einige nette Arbeitskameraden kennengelernt, trotzdem blieb ich bei meinem Entschluß, die Arbeitsstelle zu wechseln. Der amtierende Betriebsrat sowie unser Betriebsleiter Harder waren für mich die Negativpunkte, die mich zwangen dort aufzuhören. Ich hörte heute um 18.00 Uhr bei der Blattmetall auf und begann am morgen darauf um 6.00 Uhr meine erste Schicht bei der Zuckerfabrik. Die Kampagne wurde an dem Morgen erst angefahren, das heißt der Kalkofen war schon gezündet, aber die Hauptturbine lief noch nicht. Trotzdem zeigte mir ein Vorarbeiter meinen Arbeitsplatz, es war die Diffusion, wo ich als Dreher meine Arbeit verrichten sollte. Dieser Dreher hatte allerdings nicht das geringste mit dem Beruf Dreher zu tun, in meinem Fall mußten 12 große Behälter, welche nur mit der Krone über dem Boden sichtbar waren, aber jeweils zwischen 10 und 15 to frische Rübenschnitzel beinhalteten, so fest zugedreht werden, daß während des Auslaugprozesses weder oben noch unten ein Tropfen Saft verloren ging. Ich habe mir die größte Mühe gemacht, alle Verschlüsse immer dicht zu bekommen, aber die Dichtungen waren sehr oft brüchig und meine Hände waren nach 8 Tagen derart wund und rissig, daß mich nur noch ein altes Rezept aus der Gießerei Meschede pinkel dir täglich mehrmals über die Finger, arbeitsfähig und aufrecht hielt. Es ist bemerkenswert festzustellen, was in den ersten Nachkriegsjahren auch in der Industrie für Leistungen mit den primitivsten Mitteln erbracht wurden, der Verzicht oder das Nichtvorhandensein von Arbeitshandschuhen sei da nur am Rande vermerkt.

Körperliche Arbeit stand überall im Vordergrund und nur derjenige, der schon einmal in eine solche Fabrik hinein gesehen hat, versteht was ich hiermit ausdrücken will. Da gab es z.B. in der Verlängerung der Diffusion 25 m weiter die Schlammpressen. Die Leute die dort arbeiteten betraten, ihren Arbeitsplatz wie ein Ringkämpfer den Ring. Sie trugen weder Ober- noch Unterhemd und standen während der 12 oder auch 18 Stunden Schichtarbeit an einem brodelnd dampfenden Arbeitsplatz, der aus der Ferne einer Nebelwand glich.

Erwähnen möchte ich auch noch die Transmissionen, die in unserem Betrieb zu dieser Zeit noch in Takt waren. Die Turbine brachte über einen breiten Riemen eine Holzwelle in Schwung und von dieser Welle aus wurden wieder viele kleinere Riemen, die dann jeweils eine Maschine oder Werkbank in Betrieb brachten. Pfeifer und Langen hatte zu dieser Zeit noch 2 gute Sattler beschäftigt  Zu dieser Zeit wurde der Energie noch nicht soviel Aufmerksamkeit gewidmet, weil man auf der Braunkohle saß und diese auch nicht teuer war.

Im Bereich der Diffusion waren außer mir noch 2 Diffusionsleiter, 2 Stopfer, welche die frischen Schnitzel in die Behälter hineinstopfen mußten und noch 3 junge Burschen (Lehrlinge), welche sich nach jeweils 8 Stunden ablösten und an einem Meßgefäß mittels Gongschlag bekannt machten, daß die Schnitzel ausgelaugt waren.

Wir hatten an oder in dieser Abteilung insofern Pech, als erstens der spätere Konzernchef Herr von Maltzan bei uns seine ersten Lorbeeren verdienen wollte und praktisch von der Pieke an das Zuckermachen erlernte, zum anderen war Herr Neumann, welcher später unser Betriebsleiter wurde, als zweiter Schichtführer erstmalig in Amt und Würden. Wir mußten sehr viel Arbeitseifer aufbringen, um die beiden Herren zufrieden zu stellen. In guter Erinnerung aus dieser ersten Kampagne ist mir vor allem, daß mein erster Lohn, gemessen an den Entgelten der Blattmetall, enorm zufriedenstellend war. Es wurde aber auch höchste Zeit, daß sich die finanziellen Angelegenheiten etwas verbesserten, denn so langsam wurden auch in meiner jungen Familie wenn auch keine Ansprüche, aber doch hier und da Wünsche offenbart. Mittlerweile war meine Tochter auch zu einem wesentlichen Bestandteil unserer Familie geworden. Die Opas und Omas unterstützten zwar so gut sie konnten, aber bei meinen Eltern mußte der gesamte Hausstand erneuert werden und außer mir waren ja noch 3 Habenichtse da. Bei den Schwiegereltern war es nicht viel anders, ob Laden, Inventar oder Haus, alles war erneuerungsbedürftig. In Orken hatte man sich dazu entschlossen, den im Krieg gebauten Keller zu überbauen und somit für meine Schwester und für mich eine Wohnung zu schaffen. Man hatte sich mittlerweile an das Wiederaufbauen und Bauen so gewöhnt, daß um diese Zeit eine Invasion auf dem Baumarkt begann.