Am 28. 01.1927 wurde
ich in Orken geboren und wuchs, soweit ich mich erinnere, in einem geordneten Haushalt
auf. Wir waren drei Kinder, meine älteste Schwester war sechs Jahre älter, und mein
Bruder zwei Jahre älter als ich. Ich war 10 Jahre der Kleinste und dementsprechend
verwöhnt. Dann kam im Februar 1937 meine zweite Schwester zur Welt. Ich muß gestehen,
daß ich von der bevorstehenden Geburt kaum etwas gewußt habe. Obwohl ich sonst nicht auf
den Kopf gefallen war, aber die ganze Zeit war eine andere. Ebenfalls war die Kleidung dem
Zustand der Schwangerschaft mehr angepaßt. Die kleine Schwester war da und ich habe sie
mit aufgezogen.
Vater war von 7.00 Uhr
bis 19.00 Uhr zur Arbeit nach Düsseldorf, er war dort in einer Gießerei Former und
Kernmacher. Meine Mutter mußte sich um den Haushalt, die Kinder, den Garten und -
teilweise - um das Vieh kümmern.
Es war zu dieser Zeit
üblich, daß auch die Kinder eine Aufgabe im Haus übernahmen, sei es Spülen, Abtrocknen
oder Herd putzen. Heute kann man ruhig sagen, daß uns das nichts geschadet hat.
Von 1933 an besuchte
ich die kath. Volksschule in meinem Heimatort Orken. Meine gesamte Schulzeit war im
Großen und Ganzen im nachhinein erlebnisreich und schön.
Die Zeit des
Hitlerregimes wurde von unseren Jahrgängen richtig miterlebt. Mein Vater war zu dieser
Zeit von der Zentrumspartei Mitglied im Gemeinderat, so daß ich als kleiner Junge schon
sehr viel von der damaligen Politik mitbekam.
Für mich war es klar,
meinem Vater kleine Botengänge abzunehmen. So mußte ich z. B. des öfteren
Haferflocken an Bedürftige rundbringen. Diese Bedürftigen wohnten größtenteils im
Lunapark (ein großer offener Hof mit ehemaligen alten Stallungen an der QUÄKER). Dort
lernte ich die ganz große Armut erstmalig kennen.
Ehemalige Ställe ohne
Fußböden, notdürftige Kochgelegenheiten mit Ofenrohr durchs Fenster, weder Betten
noch Schränke. Das sind Begebenheiten, an die ich mich erinnere. Wir waren weiß Gott
keine mit Reichtümern gesegnete Familie, aber mein Vater hatte noch Arbeit und im Stall
waren einige Hühner, eine Ziege und ein Schwein.
Ich erinnere mich noch
recht gut daran, daß ich manchmal mein Pausenbrot abgegeben habe, wenn unsere Lehrerin
durch Nachfragen feststellte, daß eines oder auch mehrere Kinder nichts zu Essen hatten.
Da mein Elternhaus,
wenn auch nicht vom Anstrich her, schwärzer als schwarz war, konnte ich im Kindesalter
nie verstehen, daß mein Vater die Nazis regelrecht haßte. Im Laufe der Zeit
bewahrheitete sich manches, was er prophezeit hatte, man mußte ja jedes Wort, das man
aussprach, gut überlegt haben und genau wissen, mit wem und wo man sprach.
Wir hatten ja auch sehr
viele Kommunisten in unserem Ort. Ja, Orken wurde in den 30er Jahren als Klein
Moskau beschimpft.
Dazu muß gesagt
werden, daß viele der ehemaligen Kommunisten zu den Nazis übergingen. Da die
übriggebliebenen Roten alle ehrliche Kerle waren, kam es bei vielen Versammlungen zu
schweren Schlägereien. Ich erinnere mich noch gut, als unser Nachbar Jans einmal hören
wollte, worum es ging und nach kurzer Zeit schwer gezeichnet (blaues Auge) nach Hause kam.
Auch ist mir noch in
Erinnerung, daß die Kommunisten Plakate abkratzen mußten, und zwar unter Aufsicht von
SA-Männern, die vier Wochen vorher noch Mitglied der KPD waren. Die Abkratzer waren
u.a. Odentals Peter, Müllers Peter, Klöters Wilhelm und einige mehr. Einer der
populärsten KPD-Leute dieser Zeit war Hylarius Sack (Sackse Helige). Er war ein oft
gesuchter aber nie gefundener KPD-Mann, man erzählte sich hinter vorgehaltener Hand, daß
er für mehrere Jahre nach Rußland emigriert war. Man hatte seinen Garten und auch die
Nachbargärten mit sogenannten Fangfäden bestückt.
Auch seine Nachbarin
Helene Breidenaßel, welche zu dieser Zeit schon Witwe war, konnte man mit echter
Kommunistin betiteln. Echte Kommunisten waren beide Genannten, ob in Weltanschauung,
was Kirche anbelangte oder aber den eigentlichen kommunistischen Grundsatz zu beherzigen,
der da besagt, daß Reichtum und Armut gleichmäßig auf die Menschen verteilt werden
sollen. Die beiden waren dafür bekannt, daß sie von dem wenigen, was ihnen zur
Verfügung stand, an Arme noch abgaben.
Auch erinnere ich mich
noch gut daran, daß die Nazis einen Herrn Hackstein in Grevenbroich in der Nähe des
Bahnhofs auf der Flucht erschossen. Hackstein war auch Kommunist, aber nie mit dem Gesetz
in Konflikt geraten. Man hatte damals große Angst, daß Hylarius Sack das gleiche
Schicksal erleiden würde.
Auch erinnere ich mich
noch daran, daß aus der Ortschaft Stessen ein gewisser Herr Schlösser in Berlin
angeklagt und hingerichtet wurde. Er hatte sich in der Gaststätte abfällig über das
Dritte Reich und den Führer geäußert.
Die SA war zu der Zeit
in Orken in ihren Anfängen, sie marschierte in kleinen Gruppen, einmal kam so ein Trupp
von ca. 15 bis 2o Mann durch unsere Straße und Müllers Bubi, er konnte kaum richtig
sprechen, rief dann laut und deutlich: Heil Moppau".
In unserem Dorf war zu
dieser Zeit richtig was los. In jeder Familie stand eine lange Bank und ein paar Stühle;
auch fand man hier und da mal einen alten Sessel für Opa oder Oma. Polstermöbel wurden
zu der Zeit großgeschrieben.
Meistens waren zwischen
4 und 6 Kinder in den Familien, die von einem Verdienst leben mußten. Es ist wahr, daß
es kaum ein motorisiertes Fahrzeug in Orken gab. Selbst Fahrräder waren in geringer Zahl
nur vorhanden und wurden selbst als gebrauchtes Vehikel noch verkauft.
An Kuchen gab es
hauptsächlich Appeltaat und Streuselkuchen, Sahne und Kremkuchen hielten erst um 1937
ihren Einzug.
Unsere Hauptnahrung
bestand wohl aus Kartoffeln, Milch und Gemüse. Eier, Wurst und Fleisch gab es zwar, aber
einmal in der Woche. Wir freuten uns damals über Kleinigkeiten. Der Oktober z.B. war
Rosenkranzmonat, abends wurde kniend am Stuhl der Rosenkranz gebetet. Das elektrische
Licht wurde abgeschaltet und dafür das Herdtürchen geöffnet, damit wenigstens ein
Schimmer unsere Gebete begleitete.
Meine Mutter hatte dann
das Essen auf dem Herd stehen und legte für uns Kinder einen Erpel en de
Tromm (die Kartoffeln wurden zwischen Herdplatte und Backofen gelegt, so daß die
Flammen der Feuerstelle die Kartoffeln gar und knusprig machten).
Ebenfalls erinnere ich
mich noch gut an den sogenannten Krollemoll. Dieser entstand, wenn Mutter beim
Kuchenbacken etwas Teig übrig behielt, womit dann einige Äpfel umwickelt wurden und dann
mit dem Kuchen zusammen in den Backofen kamen.
Auch werde ich nie
vergessen, daß bevor es Sprudel oder Limo in den heute gewohnten Mengen und Sorten gab,
meine Mutter uns frisches kaltes Pumpenwasser, mit Zucker gemischt und mit einer
Messerspitze Natron angerührt, als Dankeschön für zusätzliche Leistung gegeben hat.
"Schümche
trecke sollte bei der Gelegenheit auch mal erwähnt werden. Und zwar wurde etwas
echte Lakritze zerkleinert, in eine nicht all zu große Flasche (ca. ¼ Liter) gegeben,
die Flasche halb mit Wasser gefüllt, einen Stopfen drauf und dann so lange geschüttelt,
bis nur Schaum zu sehen ist. Dieser wird dann mit dem Mund abgesaugt und die Zeremonie
beginnt von vorne.
Wenn früher ein
Ferkespännchen (ein Topf fürs Schwein) gekocht wurde, legte man oben
auf den Inhalt des Topfes oder Kessels einige gewaschene Kartoffeln. Der Inhalt waren
Rüben, Möhren, Blätter und kleine Abfallkartoffeln. Die oben aufgelegten Kartoffeln
waren die Ferkeserpel, die durch den Gesamtinhalt des Topfes ein wunderbares Aroma
bekamen. Ich behaupte: die schmeckten besser als Pell- oder Folienkartoffeln.
Das waren die
Delikatessen, die in unserer frühen Jugend für normal sterbliche Kinder zur Verfügung
standen.
Als Brillenträger
hatte ich damals wirklich ein Fahrrad auf der Nase, darum kann ich mich nur wundern, wenn
die Jugend heute mit solchen Dingern herumläuft oder mit Hosen ankommt, die Löcher als
neue Mode aufweisen.
Die Haare bekamen wir
meistens vom Vater mit einem Handmaschinchen geschnitten, da kam letztendlich doch
Krautschüsselschnitt oder Glatze heraus. Bei den Frauenfrisuren (heute sagt man
Damenfrisuren) war es nicht anders, entweder Ponnyfrisur oder Flechten.
Hier muß ich eine
Erinnerung kundtun, die mich damals bei meinen Eltern für einige Tage in Mißkredit
gebracht hat. Es war die Zeit, als die Dauerwellen-Frisur aufkam.
Wir Kinder spielten auf
der Straße, da kam Theisen Else mit dem Fahrrad vorbei, ich hörte wie einer sagte:
Els hat aber die Haare schön, darauf meinte einer der 16 bis 17jährigen:
Die hat die Haare, wie ein aufgeblasener Pariser(Kondom). Es war üblich, daß
wenn jemand etwas neues hatte, das so lange gezeigt wurde, bis alle es wußten.
So kam Els auch das
zweite mal mit ihrer neuen Frisur vorbei und wieder bemerkte jemand laut die neue
Haarpracht, worauf ich dann den aufgeschnappten Text vom aufgeblasenen Pariser wiedergab.
Abends lag Toni Olligs
mit seinen Eltern im Fenster (so heißt das, wenn man sich aus dem Fenster lehnt, um das
Geschehen auf der Straße zu beobachten und ein Schwätzchen mit Nachbarn zu halten), als
Els die neuen Dauerwellen auch den Spätheimkehrern präsentierte, und Frau Olligs
feststellte, was Els für eine schöne Frisur hatte. Ihr Sohn Toni sagte: Die hat
die Haare wie ein aufgeblasener Pariser. Die Eheleute Olligs sahen sich gegenseitig
und dann ihren Sohn an und wollten losschimpfen, dann kam natürlich, wie es auch richtig
war: Das hat Molls Johannes gesagt. Es war für mich jedenfalls schwer,
meine Umgebung davon zu überzeugen, daß es sich um einen aufgeschnappten Ausdruck
handelte, dessen wirkliche Bedeutung ich erst Jahre danach erkannte.
Erwähnenswert ist
auch, dass bei der Familie Theisen drei bis vier erwachsene Männer waren, von denen jeder
eine andere politische Einstellung hatte.
Willi war im Stahlhelm,
Werner war Zentrumsmann, Jupp war SA-Mann und Hubert war, soviel ich weiß, parteilos.
Wenn dann in der Familie ein Namenstag gefeiert wurde, und die aufgeputschten
Temperamente trafen aufeinander, ging es ganz schön rund.
Ich habe oft als
kleiner Junge und nachher auch als junger Mann gestaunt, wie mein Vater - wie gesagt total
schwarz - mittlerweile Kirchenvorstandsmitglied, Vizepräses im kath. Arbeiterverein und
einige Ämter mehr, stets mit Andersdenkenden, ob Sozis oder ehemalige Kommunisten, bis
ins hohe Alter in Freundschaft miteinander verkehrte.
Er hatte schon früh
mit Beleidigungen und Beschimpfungen seitens der Nazis zu tun. Als
Kirchenvorstandsmitglied trug er auf Fronleichnam natürlich auch den Himmel (Baldachin)
mit, so daß er im schwarzen Anzug den Uniformierten und meist ohne Hitlergruß den
Braunen ein Dorn im Auge war.
Eines Tages kam Gehlens
Josef, dieser war bei einem Gärtner in der Lehre, und übergab meinem Vater einen Brief
von seinem Chef. Dieser teilte mit, daß mein Bruder dem Gärtner eine Fenster- bzw.
Treibhausscheibe mit einem Stein kaputt geworfen hätte und mein Vater für den Schaden
(RM 6,50) aufzukommen hätte.
Mein Vater nahm meinen
Bruder daraufhin in die Mangel. Es stellte sich heraus, daß mein Bruder und fünf weitere
Jungen am Anwesen der Gärtnerei mit Steinen geworfen hatten. Dort standen nämlich einige
Obstbäume mit leckeren Früchten. Mein Vater schrieb dem Gärtner seine Bedenken mit der
Bemerkung: Wenn sechs Jungen werfen, läßt sich schlecht feststellen, wer der wirkliche
Übeltäter ist.
Im nächsten Brief
wurde meinem Vater mitgeteilt, daß der Volltreffer von meinem Bruder geworfen wurde,
wofür es Zeugen gäbe. Mein Vater hatte schon herausgefunden, daß die Väter der anderen
Jungen alle arbeitslos waren und er darum vom Gärtner auserkoren war, die Scheibe zu
bezahlen.
Mein alter Herr nahm
sich auf Fronleichnam nach der Prozession ein Herz und suchte den Gärtner zu einem
persönlichen Gespräch auf. Dieser legte gerade seinen Uniformrock ab und belehrte seinen
Besucher, daß der Gruß jetzt Heil Hitler wäre. Nach langen Diskussionen gab mein Vater
nach und verpflichtete sich, die Scheibe zu bezahlen, aber mit wöchentlichen Raten von RM
0,50, legte 5,00 Mark auf den Tisch, erbat 4,50 und eine Quittung zurück. Sein Gegenüber
war dann nervlich so fertig, daß seine Frau die Quittung ausschreiben mußte.
In den nächsten 12
Wochen war ich derjenige, der jeweils 5o Pfennig bezahlen und die dementsprechende
Quittung mitbringen mußte.
Auch hatte mein Vater
zu dem amtierenden Oberpfarrer Thomaß ein sehr gutes Verhältnis. Der Oberpfarrer war
schon immer eine Marke für sich. Er hatte auch zur Nazizeit seine Kirche meistens voll,
brachte eine erstklassige Predigt mit vielen tiefgründigen Passagen (es waren fast immer
Nazispitzel in der Kirche) und sein weltliches, fast militärisches Auftreten fand
allgemeine Anerkennung.
Die alten Menschen der
Pfarre Elsen werden noch gut in Erinnerung haben, als unser Vikar Steden eines Tages von
den Nazis verhaftet und in Düsseldorf inhaftiert war. Oberpfarrer Thomaß, seines
Zeichens hochdekorierter ehemaliger Offiziersanwärter aus dem ersten Weltkrieg, fuhr zwar
in schwarz aber mit allen Kriegsauszeichnungen nach Düsseldorf und brachte unseren
Kaplan, der übrigens auch in der ganzen Pfarre sehr geachtet war, wieder heil mit nach
Elsen.
Dazu muß noch gesagt
werden, daß samstags nachmittags zu ungewohnter Zeit die Glocken läuteten; den Grund,
also die Rückkehr unseres Kaplans, machte der Oberpfarrer seinen Gläubigen sonntags in
der Messe klar.
Unser Oberpfarrer war
ein robuster kerniger Mann, der wohl aus der Umgegend von Erkelenz und dort aus der
Landwirtschaft stammte, wogegen unser Vikar im Wesen und im täglichen Leben ein feiner,
vornehmer und sportlicher Mann war. Da ich zu dieser Zeit Meßdiener war, bekam ich so
ziemlich alles aus erster Hand mit, dazu zählte auch manche Ohrfeige vom Oberpfarrer.